Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
hätte runtergehen sollen, um sich den Morgentee zu schnappen und das Olivensandwich, das ihre Mutter ihr fürs Büro zubereitet hatte, aber sie konnte nicht, sie sah einfach keinen Sinn darin. Stattdessen blieb sie so lange im Bett, bis der Hunger in ihrem Magen als Säurepfütze zusammenlief und sie nach unten rennen musste, wo sie sich gefrorene Pizza reinstopfte und die Lippen zum Trinken an den Wasserhahn presste. Als sie die Treppe runtergerannt war, hatte sie sich etwas gewünscht, zumindest diesen Augenblick lang, aber nachdem sie gegessen hatte, legte sie sich wieder ins Bett, weil sie keinen weiteren Wunsch mehr hatte.
Als Avishag die ersten Albträume hatte, sagte ihre Großmutter zu Avishags Mutter Mira, »sie ist hysterisch«, und auch, »wir wollen nicht, dass ihr das Gleiche zustößt wie ihrem Bruder Dan«. Avishag und ihre Mutter lebten damals in Jerusalem. Die Wohnung, in der Avishag den Willen verlor, sich zu rühren, gehörte ihrer Großmutter. Ihre Mutter war dorthin gezogen, bevor Avishag zur Armee eingezogen worden war. In amerikanischen Fernsehserien bedeutete »hysterisch«, dass jemand herumschrie, weinte, rot anlief, Porzellan zerschmiss und grausam lachte. Wenn eine Zubari-Frau aber hysterisch wurde, war sie stumm und reglos, Porzellan, das man selbst zerschmeißen wollte. Hysterie war nichts für die Ewigkeit; sie kam und ging. Aber man musste sie verbergen – vor den künftigen Zubari-Ehemännern und vor dem restlichen Israel, das nicht Zubari und nicht weiblich war.
Als Avis Exfrau Mira ihm erzählte, Avishag hätte seit Monaten das Bett nicht mehr verlassen, und ihm erlaubte, seine Tochter wiederzusehen, wusste Avi nicht, was er tun sollte, aber er wusste, dass er diesmal etwas tun musste. Er hatte schon einen Sohn verloren, den er kaum gekannt hatte. Dann erinnerte er sich, wie er nach dem Ende seiner Armeezeit stunden- und nächtelang mit dem Auto um die Mauern Jerusalems gefahren war, weil es das Einzige war, was die Dämonen in seinem Kopf verjagt hatte. Also kaufte er seiner Tochter, die gar keinen Führerschein besaß, einen Gebrauchtwagen. Das Auto eines Menschen, der jetzt verzweifelt war. Sechs Millionen Juden waren im Holocaust ermordet worden, und das Auto, das Avi seiner Tochter Avishag kaufte, war für zweitausend Schekel unter dem Marktpreis über den Tisch gegangen.
»Sechs Millionen Juden, das ist nicht gerade nichts«, sagte Avi an dem Tag zu Avishag, als er ihr das Auto schenkte.
Seine Tochter war nicht sicher, was nicht nichts war. Sie starrte ihn an und hielt dann zum Schutz vor dem israelischen Sommer die Hand vor die Augen.
»Zweitausend Schekel, das ist nicht gerade nichts«, sagte Avi.
Das Auto hatte er von einer Überlebenden. Er sagte, »eine echte Schönheit«. Er sagte »aus Amerika«. Das Auto. Die Überlebende war aus Polen. Sie hatte die Nazis überlebt, aber als es um den Preis ging, hatte die Hure keine Chance gegen ihn.
Avi war aus Libyen nach Israel gekommen. Er war es leid, vom Holocaust zu hören, weil er noch nicht mal in Europa gewesen war, nicht mal in der Türkei zu einem dieser »All-Inclusive«-Urlaube. Und die Europäer, die überlebt und es bis in dieses Land geschafft hatten, die hatten sein Leben ruiniert.
Er erzählte Avishag, dass er in den Tagen nach der Armee nur dann hatte atmen können, wenn er mit dem Auto herumgefahren war. Er wollte, dass sie das erfuhr.
Sechs Millionen Juden waren im Holocaust ermordet worden, und Avi hatte die Frau ausgenommen und den Preis des Autos um zweitausend Schekel unter den Marktpreis gedrückt. Avishag war nicht bereit gewesen, sich auf den Fahrersitz zu setzen. Als er das Auto gerade neu gekauft hatte, kam er oft vorbei und holte sie zu Fahrten ab. Wochen vergingen. Dann konnte er nicht mehr so oft kommen, weil er als Bauunternehmer beschäftigt war oder mit seiner neuen Frau und den neuen Jungs. Immer war irgendjemand krank; immer schaffte es einer der palästinensischen Bauarbeiter nicht zu seiner Schicht.
Bis er mitten in der Nacht aufwachte. Bei dem Gedanken, er hätte aufgegeben, brach ihm Angstschweiß aus.
»Lächel doch mal«, sagte er zu Avishag am Morgen ihrer zwanzigsten »Fahrstunde«. Es waren Monate vergangen, seit er ihr das Auto gekauft hatte. Avishag stand in ihren Männershorts auf dem Parkplatz vor dem Haus, in dem ihre Mutter wohnte, und blinzelte ihn an. »Das ist jetzt die Stelle, an der du lächeln musst«, sagte Avi. Er holte seine Zigaretten aus der Hosentasche
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