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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
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immer kleiner, bis sie in ihrem Garten ankam. Ich lief ihr nicht nach. Ich blieb stehen. Und als ich die Augen schloss und wieder öffnete, eingefroren und still, konnte ich sie nirgends mehr sehen, da stand nur noch ich, ich ganz erstarrt.
    Ich versuchte immer wieder, so zu tun, als wäre ich ein Olivenbaum. Ich sagte mir, dass ich lebendig wäre, und ich lebte, und als unter meinen Knochen Tumore wucherten und Raubvögel mir die Augen auspickten, glaubte ich auch, sterben zu müssen, starb aber nicht. Ich stand wie reglos da, mit offenen Augen, die Arme verformt in der Luft; ich versuchte eine Ewigkeit lang, ein Olivenbaum zu sein, ich schwör’s. Aber ohne sie gelang es nicht. Ich versuchte es stundenlang. Bis ich gehen musste.

    Die eigentliche Todesursache des Olivenbaums war ein Hase gewesen. Einen lebenden Hasen hatten wir im Dorf nie gesehen, aber meine Mutter erzählte mir, dass sie einen Hasenkadaver in dem abgestorbenen Strunk entdeckt hatte, als sie den Baum ein paar Wochen nach meiner Abreise genauer unter die Lupe genommen hatte. Und zwar weil Leas Mutter ihr gesagt hatte, sie würde etwas sehr Komisches riechen, sei aber zu ängstlich und erschöpft, um herauszufinden, woher der Geruch käme. Der Hase war zusammengerollt und hatte kaum noch Fell. Das Fleisch vermischte sich mit der Rinde und den Würmern. Wären Lea und ich je zu dem Baum hinübergegangen und hätten ihn uns angesehen, hätten wir den Hasen gefunden, aber das hatten wir nie getan. Letztlich sind wir in dieser Nacht nie nah genug dran gewesen, um den Baum zu sehen, oder vielleicht haben wir einfach nicht hingeschaut. Einen toten Hasen hätten wir uns gar nicht vorstellen können, hatten wir doch nie einen lebenden gesehen.
    Ein paar Wochen nach mir ging Lea ebenfalls nach Tel Aviv. Sie hat es mir nicht gesagt. Ich habe es erst ein Jahr später herausgefunden. Meine Mutter hat es mir am Telefon erzählt. Da war ich schon nicht mehr in Tel Aviv. Eine Woche nachdem ich zum ersten Mal das Land verlassen habe, um die erste von vielen Reisen um die Welt anzutreten, habe ich es herausgefunden.
    Und das passierte an dem Morgen, an dem ich wegging: Ich nahm den Rucksack, den großen, den ich bei der Armee benutzt hatte. Ich hatte ihn schon am Nachmittag gepackt, noch bevor ich zu Lea gegangen war, und zwar mit allen Sachen, die mir noch passten, Sachen, die ich über zwei Jahre lang nicht angehabt hatte. Außer Klamotten nahm ich nur noch die Regeln mit, »Aushang der Raumschiffregeln«, eine Erinnerung an die Schulzeit, die ich aufgehoben hatte, nachdem der Hausmeister sie damals abgerissen hatte.
    Ich stand dort, wo man gut trampen konnte, hielt den Daumen raus und wartete. Ich stand in der prallen Sonne auf dem Asphalt, der sich vor mir erstreckte, mit dem Rücken zum Dorfrand, neben mir nichts außer verbrannten Bananenfeldern.
    Ein grüner Fiat nahm mich mit in Richtung Süden, weg von der Grenze nach Naharija, dem nördlichsten Bahnhof des Landes. Zusammen mit vier Soldaten und einer Mutter stand ich wartend am Bahnhof. Dann stieg ich ein; im Zug schlief ich.
    Im Zug nach Tel Aviv wusste ich noch nichts von dem Hasen. Ich dachte nicht an den Baum und träumte auch nicht von ihm. Ich schlief einfach nur. Kurz vor der Ankunft wachte ich auf. Am Bahnhof wimmelte es von Menschen, überall diese vielen Menschen. Eine Frau stieß gegen meinen Rucksack und ich wurde nach vorn geschoben. Als ich aufschaute, sah ich einen Mann. Er machte Werbung für einen Handyanbieter. Das erkannte ich daran, dass auf seinem Hemd »Menschen verbinden« stand. Er lächelte mich an und mit einer orangenen Broschüre in der Hand machte er einen Schritt auf mich zu. Ich stand wie angewurzelt da. Die Rucksackträger schnitten mir in die Haut.
    »Entschuldigen Sie«, sagte der Mann. »Darf ich fragen, wie Sie heißen?«
    »Nein, danke«, sagte ich. »Nein, vielen Dank.«

Und dann hat das Volk der Ewigkeit keine Angst mehr
    Da Avishag in den Zubari-Clan hineingeboren wurde, den größten irakischen Clan in ganz Israel, gehörte selbst Avishags Hysterie nicht ihr allein. Sie gehörte den vielen Frauen, die in ihrer Zeit lebten, und Generationen von Zubari-Frauen, die vor ihr in Bagdad gelebt hatten. Anfangs bezeichnete sie ihre Hysterie als Traurigkeit, sie hegte und pflegte sie, als wäre sie ihr Kind. Irgendwann im Februar wachte sie morgens auf und hatte vergessen, wie sich Wünsche anfühlten. Sie war einundzwanzig, seit acht Monaten nicht mehr bei der Armee und

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