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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
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der Jeans.
    Avishag presste das Kinn aufs Schlüsselbein und atmete tief aus. Als sie mit der Zunge an der Rückseite der Zähne entlangfuhr, schmeckte sie den Morgen. Es war kurz nach vierzehn Uhr, aber ihre Mutter hatte sie erst vor zehn Minuten aus dem Bett bekommen. So früh hatte sie es den ganzen Monat nicht aus dem Bett geschafft. Die grünen Männershorts musste Avishag schon über eine Woche anhaben. Selbst ihre Mutter hatte sie aufgegeben. »Soll dein Vater sich ruhig ein bisschen um dich kümmern«, sagte sie. »Soll ruhig er damit klarkommen«.
    »Blutsaugende tote Fische, dieser ganze Clan«, sagte Avi und haute so kräftig auf die Kühlerhaube, wie ein Mann einem anderen gegen die Schulter boxt. »Deine Mutter und ihre Schwestern und die Mutter deiner Mutter und deine Schwester und du auch.« Er zeigte auf Avishag.
    Avishag wollte kein blutsaugender toter Fisch sein, wie ihr Vater das nannte. Sie wollte keine blutsaugende tote Frau sein. Sie wollte keine tote Frau sein. Aber was sie sein wollte, das wusste sie auch nicht.
    Avi sagte sich immer wieder, dass es nicht ihre Schuld war. Sie war hysterisch. Das war erblich, typisch Irak. Am Anfang hatte er noch herausfinden wollen, was das Problem war. Er hatte gehofft, dass es einen bestimmten Grund gäbe. Er hatte sogar gehofft, dieser Grund wäre ein Junge, vielleicht ein Offizier, jemand, der ihr wehgetan hatte und dem er auch wehtun konnte. Aber als er sie nach dem Grund fragte und ob es in ihrem Leben einen Jungen oder einen Mann gäbe, hatte sie Nein gesagt. In letzter Zeit hatte er nicht mehr viel nachgefragt. Er wollte nur, dass es ihr besser ging.
    »Bitte«, sagte Avi mit gefalteten Händen und einer zwischen den wulstigen Lippen wippenden Zigarette.
    »Danke, dass du gekommen bist, Papa«, sagte Avishag schließlich.
    »Ach, Kleines«, sagte Avi und setzte das Nikotingrinsen und die Sonnenbrille ab. Er klopfte Avishag auf den Rücken. »Ich will doch nur, dass du alles bekommst, was du willst«, sagte er.
    Avishag wollte weiterschlafen. Sie war gezwungen worden, ein bisschen rauszugehen. Ihre Mutter hatte sie mit Wasser aus dem Bett gescheucht. Avishag hatte die Augen weit aufgerissen, sie schmerzten noch ein bisschen, hatten den Schock noch nicht überwunden.
    Avi setzte die billige Sonnenbrille wieder auf, legte die Hand an die Lippen und schickte explosionsartig einen Kuss in Avishags Richtung, eine Geste, die eher zu einem italienischen Koch gepasst hätte, der die Pasta lobte, als zu einem libyschen Vater, der seine depressive Tochter aufheitern wollte.
    »Komm, Kleines, drehen wir ’ne Runde!«
    Es war ihre zwanzigste »Fahrstunde«. Das reicht jetzt, dachte er. Manchmal muss man entscheiden, dass es reicht.
    Er spielte mit den Schlüsseln. Sein Schlüsselanhänger zeigte das Symbol von Jerusalems Fußballmannschaft. Avishag musste die ganze Zeit auf das um die behaarten Fingerknöchel fliegende Ding starren; es war gelb, schwarz und plüschig. Als Avi so alt war wie Avishag jetzt, war er schon mit ihrer Mutter verheiratet.

    Als Avishag fünf war, war ihre Mutter hysterisch gewesen. Ein Jahr lang. Nach der Geburt des dritten Kindes noch mal ein Jahr. Die Male, die Avi sie in dem Monat damals aus dem Bett hatte aufstehen sehen, konnte er an einer Hand abzählen. Mit dieser Hand hatte er an der Küchenarbeitsplatte aus Granit einer fast leeren Flasche Arrak den Hals abgeschlagen. Er roch den Anis; das erinnerte ihn daran, wie er das dunkle Lakritz gekaut hatte, das sein Großvater ihm in einem Süßigkeitenladen in Tripolis gekauft hatte. Avi ging ins Schlafzimmer. Seine Frau lag im Dunkeln, die Augen geschlossen und die Lippen zusammengepresst. Avi war sturzbetrunken. Er legte sich mit dem ganzen Gewicht auf ihren dünnen Körper, aber sie wachte nicht auf. Er fing an zu weinen. »Wach auf. Wach auf.«
    Er setzte zum Schnitt an. Der Glasrand der Flasche war viel schärfer, als er es sich je hätte träumen lassen. Und er träumte. Und ob. Noch Jahre danach. Ein ganzes Jahrzehnt lang. Und länger.
    In seinem Traum hielt er nur ein winziges Stück glänzendes Glas, und wenn er es in die Haut über dem spitzen Schlüsselbein seiner Frau drückte, schoss ein roter Strahl, ein gerader Strahl an die Decke. Als der Strahl an die Decke traf, wurde daraus ein in der Luft schwebender Tümpel, der dann plötzlich wieder aufs Bett runterklatschte. Im Traum ertrank er im warmen Blut seiner Frau.
    Im wahren Leben hatte er sie nur ganz leicht verletzt.

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