Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
Bei der Scheidung konnte man die Narbe an ihrem Hals schon nicht mehr sehen. Im wahren Leben brachte die Sozialarbeiterin, die deutsche Sozialarbeiterin, sie dazu, sich von ihm scheiden zu lassen.
»In der Nähe von Motza gibt es einen leeren Parkplatz«, sagte Avi am Tag ihrer zwanzigsten »Fahrstunde« und bog rechts ab. Er legte eine Kassette ein, ein Lied, das er noch aus Tripolis kannte, wo alle Frauen dunkel und jung waren und wo es Töchter wie seine nicht gab. »Ein wunderbarer Ort, um Autofahren zu üben«, sagte er.
Avishag machte den Mund auf, allerdings nur, um sich eine Haarsträhne hineinzustecken.
»Sag was«, bat Avi.
Aber so blöd war sie nicht.
Bevor Avishag zum Militärarzt gegangen war, der mit seiner Unterschrift auf den Papieren die vorzeitige Entlassung aus der Armee genehmigte, hatte Yael ihr gesagt, wenn es an der Grenze nach Ägypten wirklich so krass wäre, dann müsste sie einfach nur irgendwas sagen. Da würde alles gehen, echt. Sie könnte sagen, sie hielte sich für einen Schmetterling, behaupten, Bettnässerin zu sein, oder erklären, dass ihr Teddybär ihr die Zigaretten kaufte. Sie könnte sagen, sie hätte schon mal Schwierigkeiten gemacht und wenn sie sie nicht gehen ließen, würde sie einfach irgendwas machen, um wieder ins Militärgefängnis zu kommen, so wie damals, als sie sich auf einem Wachturm nackt ausgezogen hatte. Dass es ihr im Gefängnis so gut gefallen hätte, dass sie nicht gut in den normalen Arbeitsalltag zurückfände. Alles Mögliche, irgendetwas, das dem Arzt einen Vorwand gab, sie als verrückt einzustufen. Es dauerte zwei Wochen, bis sie zu einem Militärpsychologen überwiesen wurde, aber Yael behauptete, dass es nicht so schwer wäre, aus der Armee rauszukommen. Die wollen nicht die Verantwortung übernehmen. In diesem Land gibt es genug Soldaten.
Aber als sich der Arzt über den Schreibtisch beugte und fragte, »was führt Sie zu mir?«, hatte er sie auf dem falschen Fuß erwischt.
Sie schaute sich in seinem Büro um. Der Aschenbecher war leer; der Marmor glänzte. An der Wand hing die Karte des Landes, wie bei allen Offizieren. Oben auf den Schubkästen neben dem Schreibtisch stand ein dreckiges Aquarium. Die Fische drehten ihre Runden, golden, saphirblau und tot. Avishag war noch nie beim Arzt gewesen. Die Zubari, die ja aus dem Irak kamen, glaubten nicht an Ärzte. Es war unmöglich, einen der Millionen verrückten Sätze zu sagen, die infrage gekommen wären. Ihre Stimme versagte.
Der Doktor räusperte sich und sagte, »ich höre?«.
Schließlich sagte sie etwas, das fast wahr war.
»Dieses Aquarium sieht aus, als wäre es der Holocaust der Fische.«
Später konnte sie nicht sagen, wie sie auf diese Idee gekommen war; sie war von unergründlichen Wassermassen angespült worden, aber es war auch kein vollständiges Hirngespinst. Zwei Tage später wurde sie entlassen. Mit Yael hatte sie danach nicht mehr viel gesprochen, weil sie es einfach nicht ertrug, ihr zu sagen, dass man sie wegen eines verrückten Satzes entlassen hatte, der für sie fast wahr war.
Auf einem der Hügel rings um Jerusalem stand vor Avis Auto ein mit bunten Aufklebern übersäter Transporter.
Auf einem der Aufkleber stand: »Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst.« »Unsere einzige wahre Stütze ist unser Vater im Himmel.«
»Lass das, Kleines«, sagte Avi.
Avishag hatte das Ende ihres schwarzen Zopfs im Mund. Sie machte den Mund weit auf wie eine alte Frau, und das Zopfende rutschte raus und fiel ihr auf die Brust.
»So gefällst du mir besser«, sagte Avi.
Nachdem die Rabbis der Scheidung schließlich zugestimmt hatten, durften Avishag und ihr Vater sich nur noch unter Aufsicht der deutschen Sozialarbeiterin sehen. Sie hatte blond gefärbtes Haar, das wie eine Sandburg auf ihrem Kopf aufgetürmt war, und eine kleine Schweinchennase. Sie saß auf einem ledernen Bürostuhl, Avi und Avishag aber saßen auf bunten Holzstühlen, auf Kinderstühlen. Avis Hintern war zu groß für den Stuhl; er krümmte sich wie ein Wurm überm Feuer. Avi musste bis ganz hoch in den Norden fahren, weil Mira dorthin gezogen war. Auf dem kleinen Tisch lagen Puzzles mit glücklichen Enten drauf, Barbies und Bücher. Avishag steckte sich eine Haarsträhne in den Mund und starrte ihn an. Sein Sohn Dan weigerte sich, ihn zu sehen. Die deutsche Sozialarbeiterin sagte, er sei alt genug, das selbst zu entscheiden. Er war zwölf. Mira hatte gesagt, dass sie ihm das jüngste Mädchen bringen
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