Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte
einem der hinterletzten Zipfel, denn mein Vater wurde nicht gerne »von olle Seiddn so zammdruggd«. Warum er dann bis heute gerne in der gleichen Hochhauswohnung in Neuperlach wohnt, ist ein weiteres großes Mysterium seiner Persönlichkeit.
Wenn wir Glück hatten, war immerhin ein Platz für uns vorne ganz links oder aber ganz rechts direkt am Meer frei. Wenn wir Pech hatten, dann musste es die letzte Reihe sein, und die war erstaunlich oft direkt an irgendeiner Felswand. Das liegt daran, dass mein Vater generell Felswände und zerklüftete Küsten sehr gerne mag. Urig halt. Und darum suchte er natürlich auch ganz gezielt nach Campingplätzen in solchen Gebieten.
Das hatte zur Folge, dass ich trotz unzähliger ausgedehnter Urlaube erst im Alter von zwölf meines ersten Sandstrands ansichtig wurde, denn Sandstrand und Steilküste schließen sich fast kategorisch aus. Beim Durchforsten der Fotos fand ich zwar immerhin ein paar Hinweise auf Strände, die Sandcharakter hatten oder wenigstens nur kleinere Steine aufwiesen, aber echte Sandstrände mit allem, was dazugehört, kannte ich nur von Prospekten, aus dem Fernsehen oder von den blumigen Erzählungen der Klassenkameraden, in denen die Begriffe Palmen, Sand und blaues Meer inflationär oft Verwendung fanden. Ich konnte hier immer nur mit Felsen, Steine und schwarzes Wasser gegenhalten und galt nicht zuletzt darum in der Schule als komischer Kauz.
Ein Platz ganz vorne am Meer hat aber auch den Nachteil, dass man den ganzen Tag lang die anderen Leute vor der Nase hat. Das konnte mitunter schon ziemlich nervig sein, vor allem weil ich ein eher stilles Kind war und mein Interesse, mir mit den anderen Brüllaffen den ganzen Tag gegenseitig Bälle an den Kopf zu donnern und dabei dümmlich höhöhö zu machen, nicht erstrebenswert schien, wenn ich stattdessen ein Buch lesen konnte. Oder mich tot stellen.
Ein Platz ganz hinten an den Felsen hat aber noch ganz andere Nachteile: Das zumeist schieferartige Gestein neigt bei geringster Berührung zum Splittern und macht somit jeden Versuch einer Kletterpartie zu einem lebensgefährlichen Unterfangen. Zudem löst man mit jedem Tritt kleine Geröll-Lawinen aus, die auf dem Weg nach unten sowohl an Geschwindigkeit als auch an Umfang zunehmen und dort in erschreckend großem Radius in Autos, Wohnwägen und Campingbusse einschlagen, wo sie hagelähnliche Schäden hinterlassen.
Und glauben Sie mir, ich weiß wirklich, wovon ich rede, denn ich habe es versucht. So unglaublich das heute klingt, der direkte Weg nach oben hatte nämlich durchaus etwas für sich. Denn dort oben bei der Einfahrt zum Campingplatz war meistens ein lockender Kiosk oder im verheißungsvollsten Fall sogar eine kleine Ortschaft mit mehreren Kiosken, wo es sogar deutsche Comics oder Bücher gab! Der offizielle Weg vorbei an den anderen Mitcampern und dann die lange serpentinenförmig angelegte Straße entlang war vor allem in der prallen Sonne eine erstaunlich anstrengende Tortur. Die Alternative war der direkte Anstieg über die Schieferfelsen. Es wirkte weder allzu hoch noch allzu steil, und oben winkte ein Lustiges Taschenbuch mit Micky und Co. Dafür war ich durchaus bereit, den ein oder anderen mittleren Hagelschaden an fremden Autos zu akzeptieren.
Letztlich endeten aber alle meine Versuche, dem Camper-Joch zu entkommen, erschreckend ähnlich: Schon nach wenigen Metern lösten sich ein paar verräterische Steinchen und prasselten unten weithin hörbar auf die Wohnwagendächer. Sofort war der Platz voll mit schmerbäuchigen Leuten, die wahlweise mich oder meine Eltern beschimpften. Bei einem besonders hektischen Abstieg an einem Campingplatz am Gardasee zog ich mir wegen des messerscharfen Abbruchs des Gesteins schließlich tiefe Schnittwunden in den Handflächen zu, und das heilte mich ein für alle Mal von der fixen Idee eines Direktaufstiegs.
Ein weiteres Merkmal von Camping direkt an der Felswand: Hier staut sich gerne mal die Hitze. Man lese und staune, so mancher Campingplatzbetreiber hatte sogar ein Einsehen und darum für seine Gäste Sonnendächer aus Holzbalken und Schilfmatten gebaut, unter denen man sein Lager aufschlagen konnte.
Anfangs lehnte mein Vater diese Dächer ab, denn »mia wolln ja cämpen und ned ins Hotel«, aber irgendwann hatte er einfach genug von seinen sämig herumliegenden Familienmitgliedern und machte wenigstens dieses eine Zugeständnis an die brüllende windlose Hitze. Wir änderten also unseren Standort von
Weitere Kostenlose Bücher