Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte
gewappnet. Allerdings nicht auf das, was nun folgte.
Zunächst mussten wir erst einmal auf diesen Campingplatz gelangen, oder sagen wir besser: Mein Vater musste auf diesen Campingplatz gelangen, und das aus mehreren Gründen. Erstens, weil dieser sich so pittoresk an die schroffe Felswand klammerte, zweitens, weil das Wasser des ansonsten recht badefreundlichen Gardasees nur hier so einladend düster gegen die Gestade schlug, und drittens, weil die abenteuerlich enge Einfahrt via Tunnelöffnung ab-so-lut ungeeignet war für einen VW-Bus mit Dachgepäckträger und Bootsanhänger.
Eigentlich hätte hier ein Schild hingehört mit einem rot durchgestrichenen VW-Bus-mit-Gepäckträger-und-Bootsanhänger-Piktogramm. Aber da das in dem düsteren Tunnel sowieso kein Mensch bemerkt und es außerdem finanzielle Einbußen für den Campingplatz bedeutet hätte, gab es dort nichts dergleichen. Stattdessen befand sich ein Loch in der Tunnelwand und ein verheißungsvoll gleißender Ausblick auf den Gardasee. Dieser Ausblick war deswegen so direkt und unverstellt, weil die Sicht nicht durch den Campingplatz blockiert wurde. Der befand sich sozusagen unterhalb des Loches in verschiedenen schmalen Stufen.
Mit der Begeisterung eines Mannes, der eine Herausforderung wittert, bremste also mein Vater mitten in dem Tunnel und setzte ein kleines Stück zurück, wobei der ausladende Anhänger mit dem Boot darauf dem Ganzen noch eine entsprechende Würze verlieh.
Schon starteten die ersten Autos hinter uns ihr landestypisches Hupkonzert, aber das machte meine Eltern nicht mehr nervös, und sogar ich hatte dank diverser Italienurlaube auf dieser Frequenz längst eine selektive Taubheit entwickelt. Für mich wirkte es, als würden die Italiener schon beim Einsteigen hupen, dann beim Losfahren und schließlich in jeder Kurve und ansonsten bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Erstaunt hatte ich auch festgestellt, dass die italienischen Autofahrer/-innen sich grundsätzlich und immer sehr angeregt unterhielten und dabei unwahrscheinlich intensiv mit den Armen herumwedelten. Dabei schien es egal zu sein, ob sich jemand mit im Auto befand. Es wurde laufend geredet, gestikuliert und dazu gehupt. Wie sie gleichzeitig noch genug Hände hatten, um die Autos zu lenken, konnte ich mir nicht erklären. Wenn man bedenkt, dass sie heutzutage auch noch gleichzeitig telefonieren, ist das vielleicht ein triftiger Grund, auf Flugzeug oder Bahn umzusteigen.
Inzwischen standen wir quer in dem Tunnel und versperrten erfolgreich beide Fahrtrichtungen. Das Hupkonzert steigerte sich zu einem Crescendo, als sich nun auch noch der Gegenverkehr dazugesellte. Interessant auch, dass die vielen Autos mit deutschem Nummernschild eifrig dazu beitrugen, wobei doch hier davon auszugehen war, dass sie sich im Urlaub befanden und nicht auf dem Weg ins Büro oder in den Kreißssaal. Aber wer hat schon Zeit im Urlaub?
Mein Vater ist ein höchst geschickter Autofahrer, aber diese Aufgabe war auch für ihn eine anspruchsvolle. Als wir endlich einigermaßen senkrecht zur Fahrbahn standen, um nicht allzu schräg in das Loch einzufahren, stellten wir jedoch fest, dass aufgrund des nach wie vor ungünstigen Winkels dank Bootsanhänger die Außenspiegel vermutlich im Tunnel verbleiben würden. Mein Vater kurbelte also seelenruhig das Fenster herunter und klappte seinen Außenspiegel ein. Der Lärm des Geschreis und der Hupen war ohrenbetäubend, doch mein Vater lachte nur, winkte und kurbelte das Fenster ganz gemächlich wieder hoch. Dann bedeutete er meiner Mutter, auf ihrer Seite das Gleiche zu tun. Die hatte schon die ganze Zeit aus den Augenwinkeln auf die wütende Meute geblinzelt und es bisher vermieden, direkt hinzusehen. So unangenehm war ihr die Gesamtsituation. Man kann diesen starr vorwärts gerichteten Blick auch immer gut studieren, wenn ein Verkehrsteilnehmer etwas offensichtlich Verbotenes tut, was den Verkehrsfluss empfindlich beeinträchtigt, und auch in Deutschland alle rundum in wütender Verhupung eruptieren. Während der Südländer saftig zurückschimpft und durch das hektisch heruntergekurbelte Fenster Verwünschungen in alle Richtungen ausstößt, starrt der Deutsche fest nach vorne und tut so, als hätte er nichts gehört. Das ist so ähnlich wie wenn meine Tochter Verstecken spielt und sich dazu mit einem Handtuch über dem Kopf ins Bad stellt.
Auf jeden Fall spürte meine Mutter höchst wenig Veranlassung, nun auch noch das Fenster herunterzukurbeln.
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