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Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte

Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte

Titel: Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tommy Krappweis
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Mein Vater wurde nun doch ein wenig ungehalten und redete auf sie ein, sie möge doch BITTE den Außenspiegel einklappen, »weil mia sonst den ganzn Dog do steh bleim, bis da Stau um an ganzn See rumgeht!«
    Aber meine Mutter brachte es einfach nicht fertig, auf diese letzte Barriere zwischen sich und dem Mob vorübergehend zu verzichten. Also seufzte Papi so laut, dass man es sogar über die Hupen vernahm, und öffnete die Fahrertür. Der Lärm, der uns entgegenschwoll, war epochal. Da mein Vater den kurzen Weg vorne herum nicht nehmen konnte – wir waren schon zu weit in die Öffnung hineingefahren – musste er hintenrum laufen, dann über die Anhängerdeichsel steigen und auf der anderen Seite wieder entlang bis zum Beifahrer-Außenspiegel laufen.
    Das musste für die anderen Verkehrsteilnehmer natürlich wie die reinste Provokation wirken, und genau das tat es auch. Schon stiegen die ersten heißblütigen Inländer aus ihren Autos aus, beschränkten sich aber noch auf Schimpfen und wütendes Gestikulieren. Ich sah durch den Spalt des Vorhangs, wie sich einer in einer dramatischen Geste die Ärmel hochrollte. So etwas kannte ich eigentlich nur aus Zeichentrickfilmen, aber nun spürte ich unmittelbar, welch reale Wirkung diese klischeebeladene Geste haben konnte.
    Mein Vater griff nach dem Außenspiegel und drückte. Der bewegte sich keinen Millimeter. Er drückte noch einmal, nichts passierte. Das Ding war wohl in seinem Scharnier festgerostet, was angesichts der Tatsache, dass der Spiegel seit Millennien genau in dieser Position goldrichtig stand, durchaus nachvollziehbar war. Als sich die ersten Wutbinkel schnaubend einen Weg durch den Stau und auf meinen Vater zubahnten, riss ich erschrocken die orangefarbenen Vorhänge zu, wohl wissend, dass das auch nicht arg viel bringen würde. Die Italiener sind ja recht kinderlieb, also war anzunehmen, dass sie mir nichts tun würden. Wenn aber alle Stauteilnehmer sich zusammentäten, könnten sie einfach den Bus umwerfen oder durch die nächste Öffnung nach draußen schieben – da wo keine Straße zu einem Campingplatz führte! Mein Herz raste, und da ergriff sie mich: diese wohlvertraute Urlaubspanik.
    Egal ob Meer oder See, wie viele Kassetten und Bücher ich dabeihatte, ob es heiß war oder kühl, ob Felsen oder Sand, Griechenland, Jugoslawien, Korsika oder Italien: Es würde alles so sein wie immer. Mein Vater würde schon dafür sorgen.
    In der Retrospektive hat dieses Gefühl etwas Nostalgisches. Es gehört zu meiner Kindheit wie der Schulweg, wie der Spielplatz hinter dem Haus. Ich hatte eine Konstante im Leben, an der ich mich festhalten konnte, und diese Konstante wirkte weit über meine Kindheit hinaus, hat mich bis heute im eisernen Griff. Sie lautet:
    Camping = Scheiße.

    Eine der tragenden Säulen dieses Konstantenkonstrukts manifestierte sich in dem Moment, als mein Vater versuchte, mit beiden Händen den rechten Außenspiegel umzuklappen, während wir langsam, aber sicher von einem wütenden Mob eingekreist wurden. Die drohend geschwenkten Schraubenschlüssel, Fackeln und Mistgabeln weiß ich natürlich wohl einzuordnen ins Reich der panikinduzierten Phantasievorstellungen.
    Interessant auch, dass die Italiener leiser werden, je wütender sie sind. Das lag nur zum Teil daran, dass jemand, der aus seinem Auto aussteigt, nicht mehr so gut hupen kann. Nein, ich glaube, der eigentliche Grund ist darin zu suchen, dass der gemeine Klischee-Italiener im normalen Leerlaufzustand schon so laut und raumgreifend ist, dass er sich bei echter Wut nur noch dadurch vom Normalzustand unterscheiden kann, dass er leiser wird und weniger zappelt. Und das wirkt dann in der Tat besonders bedrohlich. Überlegen Sie mal: Haben sie Don Corleone jemals zappeln gesehen? Schreit er, gestikuliert wild und ruft »Mamma mia«?
    Nein. Nix macht der. Und genau das ist es, was ihn so bedrohlich erscheinen lässt. Ein RUHIGER Italiener, der nicht viel redet und nur eine Katze streichelt. Das rührt an den Grundfesten etablierter Klischees und macht uns somit große Angst. So weit die Theorie.
    In der Praxis verbog mein Vater mit einem gewaltigen Ruck die Befestigung des Außenspiegels so weit es ging und lief dann wieder um den Bus herum zur Fahrerseite. Ich hörte drinnen seine Schritte im Tunnel widerhallen und war erstaunt, dass er seinen Tritt nicht beschleunigte.
    Andererseits tat er natürlich das Richtige: Wäre er gerannt, hätte der Mob sofort reagiert und wäre

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