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Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte

Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte

Titel: Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tommy Krappweis
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vielleicht ebenfalls losgelaufen. So verblieb die Situation in einem seltsam lauernden Zustand, der es meinem Vater ermöglichte, kampflos die Fahrertür zu erreichen und einzusteigen.
    Es war nun totenstill im Tunnel. Das leise Klimpern des Zündschlüssels erfüllte den zeitlupenhaften Gesamteindruck dieser dramatischen Sekunden. Gleich würde es vorbei sein. Die Erlösung nah, der Volkszorn verebbt …
    Als unser altersschwacher Bus auf die Umdrehung des Zündschlüssels mit einem gurgelnden Husten antwortete und dann wieder erstarb, wusste ich, dass das Gegenteil eintreten würde.
    Während mein Vater weiterhin versuchte, den Wagen zu starten, und dabei mehrfach scheiterte, griffen die ersten Hände zu. Zwei stotternde Fehlversuche weiter spürten wir bereits, wie der Bus in Bewegung geriet, schaukelte von dem wütenden Ansturm der aufgebrachten Meute. Meine Mutter schrie auf, ich verkroch mich unter dem Klapptisch, und mein Vater bewies einmal mehr, dass er erst unter Druck zur Höchstform auflief: Er löste die Handbremse und griff beherzt das Lenkrad! Der Mob spürte, dass man den verhassten Blockierer bewegen konnte, und unwillkürlich drückten unzählige Hände in die einzig sinnvolle Richtung, und zwar den Bus mitsamt Anhänger durch die enge Öffnung – ganz ohne motorischen Antrieb rollten wir daraufhin leise knirschend durch das elende Loch hinaus auf den sandigen Weg des Campingplatzes. Auch mein Vater war etwas überrascht, wie abschüssig dieser Weg doch war, und ebenso von der scharfen Rechtskurve direkt nach der Ausfahrt, die auf eine rachitische Schranke zulief. Diese war geschlossen, und man muss sich schon fragen, ob der Mann auf dem Klappstuhl unter dem Sonnenschirm taub war oder das Theater da oben an der Einfahrt einfach schon viel zu oft miterlebt hatte, um jetzt noch in plötzlichen Aktionismus zu verfallen.
    Es war wohl Letzteres, gepaart mit Routine, denn die Schranke öffnete sich zwar knapp, aber ausreichend pünktlich, just als es auch nottat, wenn wir ohne Kontakt mit dem Schlagbaum passieren wollten.
    Erst als wir die Schranke hinter uns gelassen hatten und ein gutes Stück den schmalen Weg hinuntergerollt waren, hielt er an, und wir wagten einen Blick zurück.
    Wir sahen noch ein paar besonders aufgebrachte Leute, die uns von oben an der steilen Kurve wütend die Fäuste entgegenschüttelten und nun doch wieder irgendetwas riefen. Doch dann trollten sie sich plötzlich recht fix, als über ihnen die Sinfonie für Hupen und Gebrüll jäh den zweiten Satz anstimmte. Diesmal aber nicht wegen uns, sondern wegen unserer Schubskolonne, die ja nun ihrerseits den Tunnel blockierte und so zum neuen Feindbild der dort Verbliebenen aufrückte. So schnell kann’s gehen.

    Dieser Campingplatz stellte sich auch ansonsten als recht eigenwillig heraus. Es war nämlich einer der wenigen am Gardasee, der nicht über einen Strand verfügte. Obwohl der See für seine stabilen Winde berühmt und darum für Surfer so attraktiv ist, staute sich die Hitze so brutal an dieser Felswand, als wolle sie den Stein verflüssigen, um dem See mehr Raum zu schaffen.
    Außerdem gab es nicht nur Standplätze für die Camper, sondern auch noch kleine, eiförmige Minibungalows, die mit zum Seltsamsten gehören, was ich bis dato gesehen hatte. Diese Dinger verschoben meine Vorstellung von der Grenze der Leidensfähigkeit deutscher Urlauber um ein gutes Stück in Richtung frei fallender Unfassbarkeit. Stellen Sie sich ein Ei oder besser: eine Kokosnuss vor, die in etwa die Größe von vier Chemie-Toilettenhäuschen hat, wie man sie von Baustellen oder Rockkonzerten kennt. Darin waren auf der einen Seite zwei Betten übereinander und auf der anderen eine kleine Küchenzeile mit Waschbecken eingepasst. Außen fand sich noch eine verschließbare große Kiste und ein Vordach, unter dem die Sitzgarnitur ihren Platz hatte. Der Vergleich mit dem Haus von Spongebob ist als zutreffend zu bezeichnen. In dieses Horror-Ei installierten sich zum Teil vierköpfige Familien.
    Es war jeden Morgen ein Schauspiel für uns, wenn sich nacheinander die wabbeligen Sperrholztüren der Kokosnüsse öffneten und daraus eine Vielzahl von Menschen hervorquoll, die nun erst einmal versuchten, ihre Glieder aus der Embryonalhaltung wieder in den aufrechten Gang des Homo Sapiens zu strecken. Wenn man so will, wurden wir täglich Zeuge des letzten wichtigen Evolutionsschritts der Menschheitsgeschichte. Wäre irgendwo ein schwarzer Monolith

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