Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte
Film bewegten, als wären sie lebendig.
Tja, so kann’s gehen, Werner Krappweis. Aber sechs Jahre später kam schließlich der kleine Nico daher, und wenn er nicht gerade brüllte oder irgendetwas haben wollte, nur weil ich es gerade hatte, dann folgte er begeistert unserem Vater und seinem »Papiiiii« überallhin.
Klingt nach Eifersucht? Ich weiß nicht, ich glaube, das würde sich anders anfühlen. Da ich ja so gar nicht sein wollte, war es letztendlich nicht so schlimm. Ich wusste ja ziemlich genau, was der Preis war, um Nicos Position innezuhaben: Camping gut finden und Rennrad fahren. Beides war mir zutiefst zuwider, also war ich bald ganz froh, dass sich die beiden aneinander abarbeiten konnten und man mich in Ruhe ließ. Eigentlich blieb mir jetzt nur noch Mami, die alle fünf Minuten sagte, ich solle doch mal an die frische Luft. Aber das konnte ich ja gerade noch leisten, indem ich eben an der frischen Luft weiterlas. Man kann aber nicht gut lesen beim Schnorcheln oder Bootfahren – dabei kann man nur gut in Seeigel treten oder kentern –, und darum fielen diese beiden Hauptbeschäftigungen für mich grundsätzlich erst einmal aus.
Außerdem ist interessant, dass mein Bruder ebenso dazu neigte und neigt, in die bizarrsten Unfälle und Missgeschicke verwickelt zu werden. Bei »verwickelt« fällt mir da zum Beispiel der Fuß ein, den er sich bei einem Motorradunfall um das Gaspedal wickelte. Außerdem fuhr er als kleiner Junge mit dem Fahrrad Kopf voraus in einen Zeitungsständer, brach sich mehrfach Arme und Beine und wurde einmal von einem Pferd ins Gesicht getreten. Im Krankenhaus vernietete man ihm die Kiefer mit Schrauben und Gummiband und hängte ihm eine Schere um: Falls er sich von den Medikamenten erbrechen müsse, solle er sich doch die Gummis durchschneiden wegen der Erstickungsgefahr.
Ich selbst habe mir trotz – oder wegen – des Berufs als Stuntman nur wenig nennenswerte Verletzungen zugezogen. In meiner linken Handfläche befindet sich eine verhärtete Ader aufgrund eines unglücklichen Aufschlags. Außerdem brach ich mir in Ausübung meiner Pflicht aufgrund eines dummen Fehlers zwei Rippen. Das war’s aber eigentlich auch schon. Die Bilanz meines Bruders fällt da deutlich dramatischer aus. Aber selbst die Verletzungen unserer gesamten Restfamilie zusammengenommen – und vielleicht noch der angrenzenden Nachbarfamilien –, würden niemals an das Bruchniveau meines Vaters heranreichen. Er ist der ungekrönte König der schweren Verletzungen. Bereits mit achtzehn Jahren wurde Werner Krappweis darum bei der Bundeswehr ausgemustert. Lachend erzählt mein Vater noch heute von dem Blick, den der Musterungsarzt zur Schau trug, als er auf das DIN-A4-Blatt voller Verletzungen starrte. Der behandelnde Arzt hatte sogar noch »rundrum den Rand von dem Zettel vollg’schrieben, wei koa Platz mea war!«.
Hier ein Best of mit dem Hinweis, dass es sich dabei zu neunundneunzig Prozent um Sportverletzungen beim Radfahren, Skifahren oder Skilanglauf handelt:
zwei Zehen gebrochen;
den rechten Knöchel komplex gebrochen;
die linke Kniescheibe so sehr zerschmettert, dass nur noch ein Fünftel davon im Knie verbleiben konnte;
drei Operationen an der Bandscheibe;
sechzehn Rippen gebrochen; Brustbein gebrochen; die rechte Schulter gebrochen; den Oberarm gebrochen;
zweimal den rechten und einmal den linken Daumen gebrochen; den linken Daumen ausgekugelt und dabei eine Sehne abgerissen; ein Wadenmuskel links abgerissen;
Bizeps am rechten Arm abgerissen;
Schulterblatt rechts zertrümmert;
Schädelbruch der rechten Schädeldecke;
Gehirnerschütterung, vier Stunden bewusstlos;
Blinddarmdurchbruch während eines Radrennens, unzählige Platz- und Schürfwunden.
An eine der Platzwunden erinnere ich mich selbst noch gut, denn ich war daran unmittelbar beteiligt. Mein Vater hatte mal wieder irgendein Radrennen gewonnen und war auf dem Weg zur Siegerehrung. Stolz wollte er dort mit seinem kleinen vierjährigen Sohn aufkreuzen, schnappte sich diesen und setzte ihn vor sich auf den Lenker. Er fuhr los, beschleunigte … und überschlug sich vornüber, denn sein Sohn blockierte mit dem linken Fuß das Vorderrad.
Ich landete nach Augenzeugenberichten wohlbehalten auf dem Bauch meines Vaters und blieb unverletzt. Während meine Mutter mich über den Schreck hinwegtröstete, ließ es sich mein Vater nicht nehmen, mit einer gigantisch blutenden Platzwunde am Kopf auf das Siegertreppchen zu steigen, um dort
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