Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte
Ortsbezeichnung im Namen trägt: der Schiefe Turm von Pisa.
Clever hatte mein Vater die übliche Burg-Karte gezogen, und ich war drauf reingefallen. »Des is wia a Burg, nur ohne Mauern und ohne alles andere außer dem Turm.«
Nun hat dieser Turm ja diese eine ganz spezielle Bewandtnis, die jeder kennt und die seit Erfindung der Fotografie schon unzählige Spaßvögel zu witzigen »Ich bewahre den Turm vor dem Umfallen«-Fotos inspiriert hat. Eine Stichprobe via Online-Bildersuche ergab, dass so mancher kaum den Effekt der perspektivischen Illusion beherrscht, aber sein Werk trotzdem des Hochladens für wert befindet, sobald man ansatzweise erkennt, was gemeint ist. Witzig.
Wir waren dort zu einer Zeit vor der großen Serie von Baumaßnahmen, während derer man den Turm für zwölf Jahre sperrte. Seit 2001 darf man wohl wieder rauf, aber immer nur in kleinen Grüppchen. Mir ist das egal, denn ich werde erst dann wieder einen Fuß auf diesen Turm setzen, wenn er endgültig umgekippt und in seine Einzelteile zertöppert auf der Piazza di Miracoli liegt.
Mein Vater hatte noch schöne Erinnerungen an den Turm, denn der lag auf der damaligen Reiseroute nach Sardinien mit seinen Freunden Hansi, Wago und Tom-Tom. Lachend erzählte er uns auf der Fahrt nach Pisa davon, wie sie nachts um zwei Uhr dort angekommen waren und ihre Rostlaube direkt vor dem Turm parkten. Damals war der Turm jedermann zugänglich, rund um die Uhr und ebenso kostenlos wie barrierefrei. Dieser Umstand – und der Vollmond, wie mein Vater noch bemerkte – mochten ursächlich dafür gewesen sein, dass die vier ihr Uher-Tonbandgerät im Erdgeschoss aufstellten und in voller Lautstärke James Brown durch das Gemäuer jagten. Dann hängten sie sich Decken um und liefen unter lautem »Schuhuu«- und »Wuhhahahaaa«-Geschrei lachend den Turm rauf und runter. Angeblich waren keine bewusstseinserweiternden Substanzen im Spiel. Mein Vater besteht bis heute darauf, dass er alle noch so irrsinnigen Aktionen grundsätzlich mit körpereigenen Substanzen bestritt, und ich glaube ihm das. Mein Vater hat keine Drogen nötig, und sollte er doch einmal auf den Geschmack kommen, dann gnade uns Gott.
Diese romantisch-wahnwitzige Erinnerung im Herzen tragend, bugsierte uns mein Vater also auf den Eingang des Turmes zu, und schon der Anblick machte mich irgendwie schwurbelig. Das Ding war ja echt verdammt schief – zu dieser Zeit sogar noch etwas schiefer als heute, da man ihn zwischenzeitlich ja auch ein wenig aufrichten konnte. Ich erinnere mich nicht mehr daran, ob wir Eintritt bezahlten, wie der Aufstieg vonstattenging oder wie die Treppen beschaffen waren. Ich erinnere mich nur an Folgendes:
Irgendwo auf dem Weg nach oben in einer der oberen Etagen deutete mein Vater auf eine Öffnung nach draußen. »Schaug amal, da kamma naus!« Ich fühlte mich bereits irgendwie seltsam, denn wir waren auf unserem Weg nach oben gerade an einer Stelle angekommen, die dem Abgrund zugewandt war. Ich weiß noch gut, wie fremd und kontrollverlustig es sich anfühlte, sich auf der Treppe an der Mauer abzustützen und dabei zu spüren, wie verdammt schief dieser elende Turm stand! Man sieht ja von innen nicht, dass er schief ist, aber man fühlt es verdammt deutlich. Somit passt das, was man sieht, nicht zu dem, was man fühlt, und das war für mich zumindest damals eine Erfahrung, die mich völlig aus der Bahn warf. Trotzdem folgte ich unsicheren Schrittes meinem Vater, stolperte etwas ungeschickt aus der Öffnung hinaus und …
… blickte in einen Abgrund nur wenige Zentimeter vor meinen Fußspitzen. Zudem war der Boden, auf dem ich stand, auch noch abschüssig, und es war kein Geländer angebracht! Das Einzige, woran ich mich festklammern konnte, war eine dicke Säule, die ich natürlich nicht ansatzweise umfassen konnte. Der etwa vierzig Meter weit entfernte Boden schien plötzlich näher zu kommen, und ein jäh einsetzendes Schwindelgefühl brach förmlich auf mich herein, als würde es jetzt nachträglich all den Respekt einfordern, den ich bisher bei meinen Kletteraktionen hatte vermissen lassen. Meine Welt begann sich zu drehen, und ich weiß nur noch, dass ich mich mit geschlossenen Augen an der Säule festklammerte und mein rechter Fuß plötzlich keinen Boden mehr unter sich spürte. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass mich mein Vater gegen die schiefe Mauer in dem Treppengang lehnt und mit mir spricht. Die Worte »nicht«, »Mami« und »erzählen«
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