Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte
»Knocking On Heaven’s Door«. Was sonst.
Hier sang Torsten sogar im Refrain leise mit, und ich wagte so etwas Ähnliches wie eine zweite Stimme … und siehe da, etwas passierte! Zu unserer maßlosen Überraschung sang Gerdi mit. Nein, sie sang nicht nur mit – sie sang! Verdammt, sie sang echt gut! Stolz grinste Claudia uns zu, und wir wären fast aus dem schleppenden Schrammelbeat gefallen, als Gerdi in die nächsthöhere Oktave wechselte und dort erst richtig loslegte. Von euphorischem Hochgefühl mitgerissen stiegen wir zu neuen musikalischen Höhen auf, sangen unter Gerdis Leadstimme mit, folgten der Dynamik ihrer Stimme mal zart in der Strophe und laut im Refrain – es war ganz und gar unglaublich! Instinktiv spürten wir, wann Gerdi den Schluss anstimmte, sie wurde langsamer im letzten Satz, und es war klar, einfach klar. Zusammen legten wir eine Punktlandung hin, und der letzte Ton erstarb völlig synchron und verlor sich irgendwo zwischen den leise rauschenden Halmen …
Magic.
Torsten und ich waren baff. »Du … kannst singen«, brachte ich heraus, und Claudia nickte, als hätte sie Gerdi jeden Ton beigebracht.
»Willst du vielleicht in unserer Band mitmachen? Wir könnten eine Sängerin echt gut gebrauchen!« Er vermied dabei jeglichen Blickkontakt zu mir, denn hey, verdammt noch mal, ich war der Sänger, und warum brauchten wir bitte plötzlich eine Sängerin, wenn wir mich hatten??
Die Antwort von Gerdi tat ihr Übriges, um diesen Themenkreis ein für alle Mal abzuschließen: »Nee, lasst mal, ich hab schon eine Band, und die können richtig spielen.«
Okay.
»Ach und ›Lady D’Arbanville‹ ist e-Moll und nicht Dur, da musst du den Zeigefinger weglassen«, klärte mich Claudia nun auf. Ich muss sie wohl etwas sehr perplex angestarrt haben, denn sie nahm das als Aufforderung wahr und griff sich die Gitarre. Es folgte eine Viertelstunde Gitarrenunterricht, in dem sie mir wortreich ein paar weitere Griffe erklärte und wie man locker aus dem Arm die Saiten anschlug, ohne so verkrampft auszusehen. Vielen Dank. Oh, danke, ja. Aha, interessant.
Es war vielleicht der niederschmetterndste Moment in unserer bisherigen Bandkarriere, als sich Gerdi nun die Bongos schnappte und die beiden zu den Klängen von Claudias lupenreinen Pickings »Morning has Broken« anstimmten. Zweistimmig.
Als sie den Song fehlerfrei beendet hatten, standen Torsten und mir die Tränen in den Augen, und das hatte vielerlei Gründe:
Die Mädchen, die wir zu beeindrucken trachteten, hatten uns gerade mal wieder vor Augen geführt, wie viel weiter Mädels in dem Alter sind.
Wir hatten uns mordsmäßig was auf unsere »Band« eingebildet und hatten nicht wenig Lust, unsere Instrumente hier und jetzt in dem Feld zu vergraben.
Torsten war Allergiker, und sein Gesicht schwoll gerade zu.
So trottete ich wenig später anstatt mit Claudia am Strand entlang mit dem Elefantenmenschen den Schotterweg zu unserem Zelt zurück. Die Gitarre und die Bongos hatten wir bei den Mädels gelassen, die noch ein bisschen weiterjammen wollten. Klar, was auch immer, viel Spaß, haut rein, bis dann.
Im Zelt drückte ich Torsten die Cortisoncreme in die von Prellungen und Allergen geschwollenen Finger und verzog mich in meine Koje. Auf die Idee, dass er heute vielleicht die Ruhe und Mückenlosigkeit des abgetrennten Schlafraums dringender gebraucht hätte, kam ich nicht, und heute tut es mir leid. Damals tat es mir ehrlich gesagt einen Scheiß. Ich wollte nur noch nach Hause, und auf eine Art und Weise war somit alles wie immer beim Camping.
Tag der Erkenntnis
D ie Nacht der Niederlagen war vergangen, und der Tag des Ausflugs kam. Die Fronten waren diesbezüglich schnell geklärt. Torsten würde definitiv alleine zum Staffelsee fahren, dort würde ihn Ralf an der vereinbarten Stelle mit einem Ruderboot erwarten, und sie würden gemeinsam hinüberrudern auf diese elende Campinginsel.
Ich kann mir heute kaum mehr vorstellen, wie wir solche Abmachungen eigentlich damals getroffen haben ohne Mobiltelefone. Unfassbar eigentlich. Wie kamen wir damals aus ohne diese fünfzehn »Ich bin gleich da«-SMSen, kurz bevor wir dann »Wirklich gleich da« sind und schließlich »Gimme 5 Min«, um dann in der Tat fünf Minuten später mit »Fast da …« noch ein lahmes Star-Wars-Zitat zu bemühen, damit der Wartende vielleicht nicht ganz so sauer gucken würde, wenn wir eine halbe Stunde später dann endlich eintrudeln und dabei irgendwas vom
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