Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte
den Kenwoodboxen, und niemand beschwerte sich. Man beschwerte sich nur, wenn die zwei bleichen Loser mit der Gitarre und den Bongos versuchten, so etwas wie Musik zu machen. Wohlgemerkt in einem Achtundzwanzigstel der Lautstärke von Svens Autoradio.
Auch das gehört zu Dauercampern irgendwie dazu. Lärm ist nicht gleich Lärm. Wenn der Campingprinz seine Freundin beschallt, ist das so ähnlich wie früher die Fanfaren, die von den Zinnen schallten. Wenn da Gruaba in der Früh um sechs den Rasenmäher anschmeißt, dann ist das gut so, denn man hört, dass hier was »gemacht« wird. Da Gruaba is a fleißiga Mo.
Das lässt sich gut vergleichen mit den heutigen Laubgebläse-Fetischisten. Sie sind überall, und sie sind Legion. Aber irgendwie regt sich keiner wirklich auf. Es wird ja schließlich Ordnung gemacht, das muss schon sein.
Nun standen wir also völlig erstaunt vor Claudia, und sie redete, lachte, redete und redete. Ich verstand irgendwas von Abschlussprüfung und dass es ja witzig wäre, dass wir ausgerechnet hier, und vielleicht könnten wir heut Abend ja, oh, ihr habt Instrumente dabei, das ist ja, aha und das ist Sven. Hallo, Sven. Spuck, hallo, spuck. Komm mit, wir müssen weiter den ganzen Tag rauf- und runterfahren, und ich will dich pünktlich um 8:43 Uhr oben schnackseln. Wer sind die beiden Loser, stopp, is’ mir egal, steig ein. Spuck. Brummmm …
Hatte sie jetzt gesagt, dass sie irgendwas mit uns heute Abend machen wollte, oder hatten wir das falsch verstanden? Wir tippten natürlich auf falsch verstanden. Schon allein aus Selbstschutz, denn Prinz Kenwood sah nicht so aus, als wäre es eine arg brillante Idee, mit seinem Mädel irgendwas …
Umso überraschter waren wir, als Claudia mit einer Freundin im Schlepptau bei Sonnenuntergang an unser Zelt klopfte, wo wir gerade um den Kocher kauerten wie Gollum am Fischteich und die zweite Dose Ravioli erhitzten. Sofort brach eine mittlere Panik aus, wir fuhren uns durch die Haare, ruckelten die muffigen T-Shirts zurecht, und ich versuchte besonders posig den Reißverschluss zu öffnen. Es gelang mir teilweise, und er klemmte kaum. Schon traten wir hinaus in die Abendluft und mühten uns redlich, so auszusehen, als hätten wir mit dem Besuch gerechnet.
Wir erfuhren, dass Sven heute mit »den Jungs« nach Murnau gefahren sei, um »einen draufzumachen« wie jeden Freitag. Aha. Während Claudias Beschreibung von Murnau und den dortigen Möglichkeiten, einen draufzumachen, wie ein Sturzbach auf uns niederprasselte, hatten wir Gelegenheit, ihre Freundin mit dem Namen »Gerdi« etwas näher zu betrachten. Da unsere Augen kein Weitwinkel hatten, mussten wir dazu den Kopf hin und her bewegen. Gerdi war nicht dick. Gerdi war epochal. Zudem trug sie so etwas Ähnliches wie einen Tarnanzug, oder zumindest sah es so aus. Zusammen mit diesem soldatischen Aufzug, dem Umfang und dem verkniffenen Gesichtsausdruck sah sie aus wie die lebendige Verkörperung eines Leopard-Panzers.
Torsten und ich sahen uns an. Instinktiv wollte jeder den anderen würgen und dabei brüllen: BITTE TU MIR DAS NICHT AN!
Denn natürlich wussten wir beide, dass einer von uns Gerdi ablenken musste, wenn der jeweils andere bei Claudia an Boden gewinnen wollte. Gerdi würde nämlich immer neben Claudia sitzen, und sie würde aufpassen wie der Höllenhund persönlich, damit niemand Claudias Ehre beschmutzte. Es war völlig klar, dass sie Claudia hörig war, weil die ihr immer solche Sachen sagte wie »Natürlich kannst du das tragen!«. Es war aber auch klar, dass sie alles – wirklich alles – tun würde, um bei Prinz Kenwood in der Gunst zu steigen. Dazu gehörte nicht nur, sondern ganz besonders, dass sie uns verpfeifen würde, sobald wir irgendetwas Unbotmäßiges taten. Oder planten. Oder gedachten zu planen. Die einzige Chance, wie man gefahrlos an Gerdi vorbei in Claudias Nähe navigieren konnte, war … wenn einer von uns beiden Gerdi übernahm. Bitte denken Sie sich hier einen Musikakzent wie aus einem alten Hammer-House-of-Horror-Film. Dazu einen Blitz und das Lachen von Vincent Price.
Keiner von uns beiden wollte Gerdi übernehmen. Vielleicht wollte ja Gerdi auch keinen von uns, aber das war im Moment noch gar nicht das Thema. Es genügte ja schon, wenn sie so etwas wie geschmeichelt war und wir so rudimentär in ihrer Gunst verweilten. Mit jedem Millimeter Boden, den wir an Gerdi gutmachten, reduzierte sich die Gefahr, dass Prinz Kenwood uns den Rest des Urlaubs mit
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