Das Wahre Kreuz
Offiziere und Unteroffiziere kannten meinen Onkel. Die Brände waren längst gelöscht, aber die Spuren der Kämpfe und die Verwüstung, sei es durch Artille-riebeschuß, sei es durch menschliche Zerstörungswut, waren allgegenwärtig. Die reiche Stadt am Nil hatte ihren morgenländischen Zauber verloren. Kairo wirkte ärmlich und schmutzig. Al-Kahira hieß es auf arabisch, die Siegreiche. Der Name paßte nicht mehr. Wir gingen durch eine besiegte und geschändete Stadt, die lange brauchen würde, um sich zu erholen.
Der Platz vor Bonapartes Hauptquartier wurde von einem dichten Kordon ausgesuchter Grenadiere abge-riegelt. Uns ließ der befehlshabende Offizier passieren, und wir betraten den schattigen Palast. Alle Spuren des Kampfes, der wenige Tage zuvor in diesen Gängen ge-tobt hatte, waren getilgt. Vermutlich mochte Bonaparte nicht daran erinnert werden, daß die Rebellen bis in sein Haus vorgedrungen waren.
»Ob beim Angriff auf den Palast nachgeholfen worden ist?« fragte ich meinen Onkel. »Wenn wirklich die Ritter vom Verlorenen Kreuz Ourida entführt haben, konnten sie schwerlich abwarten, ob die Rebellen den Palast stürmen oder nicht.«
»Du meinst, sie haben die Menge dazu angesta-chelt?«
»Vielleicht nicht nur das«, spann ich den Faden weiter. »Vielleicht geht der ganze Aufstand auf ihre Rechnung. Sie könnten ihn, die Unzufriedenheit der Einheimischen ausnutzend, in Gang gebracht haben, um sich im Zuge des allgemeinen Aufruhrs Ouridas zu bemächtigen. Anders wäre es ihnen wohl kaum gelungen, in Bonapartes Hauptquartier vorzudringen.«
»Dann hätten eine Menge Menschen ihr Leben nur dafür gelassen.«
»Seit sechshundert Jahren nehmen die Ritter vom Verlorenen Kreuz es hin, daß Menschen ihretwegen ihr Leben lassen. Warum sollte sie das jetzt stören?«
»Deine Überlegung ist nicht von der Hand zu weisen, Bastien. Aber wenn es sich wirklich so verhält, sind die Ritter noch viel gefährlicher, als wir bislang dachten. Vielleicht sollten wir Bonaparte in alles einweihen.«
»Nicht, wenn es sich vermeiden läßt, Onkel. Denken Sie an Ihr Versprechen!«
Wir bogen um eine Ecke, und vor uns tauchte Bonapartes Vorzimmer auf. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, den Oberbefehlshaber einzuweihen. Gewiß konnten seine Macht und seine Soldaten bei der Suche nach Ourida nützlich sein. Aber mir stand das Bild des zerstörten Beduinenlagers noch zu deutlich vor Augen.
Fast jede Nacht träumte ich davon. Seit dem Angriff auf das Tal der Abnaa Al Salieb wußte ich, daß der General im Zweifelsfall über Leichen ging. Ich wollte nicht, daß auch Ourida ihm zum Opfer fiel.
Wir mußten fast eine Stunde warten, bis wir vorge-lassen wurden. Als es schließlich soweit war, kehrte Bonaparte uns den Rücken zu. Er stand mit den Generälen Berthier, Dommartin und Lannes vor einer gro-
ßen Wandkarte Kairos und besprach mit ihnen neue Befestigungsmaßnahmen. »Wir müssen die Forts so anlegen, daß alle wichtigen Punkte der Stadt von mindestens zwei Seiten unter Feuer genommen werden können«, sagte er. »Dann können wir, sollte es wieder zu einem Aufstand kommen, jede Zusammenrottung durch einen gezielten Beschuß schon im Keim erstik-ken.«
»Rechnen Sie mit weiteren Aufständen, Bürger General?« fragte Onkel Jean.
Irritiert wandte Bonaparte sich zu uns um. »Ah, Sie sind’s, Cordelier. Nun, nach den Ereignissen der vergangenen Tage möchte ich auf alles vorbereitet sein.
Für unsere Soldaten ist es die Hölle, sich in den engen Gassen der Stadt Haus für Haus vorwärtszukämpfen.
Wenn es noch einmal zu einer Rebellion kommt, werden unsere Geschütze so aufgestellt sein, daß sie den betreffenden Stadtteil in Schutt und Asche legen können. Aber Sie sind sicher nicht gekommen, um militärische Belange mit mir zu erörtern.«
»Nein«, bestätigte mein Onkel und trug ihm unser Anliegen vor.
Bonaparte setzte eine abweisende Miene auf. »Sie wollen mit Professor Ladoux wieder zu dem Tempel, ausgerechnet jetzt? Wir mögen Kairo unter Kontrolle haben, aber für die angrenzenden Gebiete kann ich nicht garantieren. Wir müssen mit marodierenden Be-duinenbanden rechnen. Ja, wir wissen derzeit nicht einmal, ob die Soldaten am Tempel noch leben. Ich müßte Ihnen also eine große Eskorte mitgeben, wenn ich nicht Gefahr laufen will, zwei so hervorragende Wissenschaftler wie Sie, Professor, und Ihren Kollegen Ladoux zu verlieren. Zur Zeit brauche ich meine Soldaten aber hier in Kairo. Ich fürchte daher, Sie
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