Das Wahre Kreuz
unversehrt, entdeckt haben. Über die genauen Umstän-de gibt es verschiedene Berichte, die aus wissenschaftlicher Sicht ebenso zweifelhaft sind wie die Frage, ob Helena wirklich das Kreuz Jesu fand.«
»Sie sind ein Mann der Kirche, Onkel«, sagte ich verblüfft.
»Glauben Sie nicht an das Wahre Kreuz?«
»Doch. Aber ich bin auch ein Mann der Wissenschaft. Unstrittig ist, daß ein Kreuz gefunden wurde, das man für das Kreuz Jesu hält. Vielleicht war sogar tatsächlich Helena diejenige, die es gefunden hat. Das würde erklären, warum Teile des Kreuzes nach Kon-stantinopel, der Residenz Konstantins, gebracht worden sind.«
»Warum hat man es in Einzelteile zerlegt?«
»Auch darüber gibt es viele Legenden. Die Gläubigen waren damals – und sind es auch heute noch – stets auf der Suche nach Reliquien, die sie verehren können.
Vielleicht ist das Kreuz Jesu aus der ganz praktischen Überlegung heraus geteilt worden, daß man dadurch mehr Reliquien zur Verfügung hatte. Möglicherweise war es aber auch, als es entdeckt wurde, schon so ver-rottet, daß es von selbst zerfiel.«
»Und ein Teil ist im Heiligen Land geblieben?«
»Ja, er wurde in der Grabkapelle ausgestellt und von allen Pilgern, die nach Jerusalem kamen, angebetet. Im siebten Jahrhundert wurde die Reliquie von den Persern geraubt, aber Kaiser Heraklios hat dafür gesorgt, daß sie wieder nach Jerusalem gebracht wurde.« Onkel Jean machte eine Pause, in der er seine Gedanken zu ordnen schien. »Überspringen wir die folgenden Jahrhunderte.
Es gibt so viele Geschichten über das Wahre Kreuz und die Wunder, die es vollbracht haben soll, daß eine Nacht nicht reichen würde, um sie alle zu erzählen. Für uns ist wichtig, daß die Kreuzfahrer, als sie Jerusalem im Jahr 1099 einnahmen, das Kreuz fanden. In einigen Berichten wird es tatsächlich als mit Gold und Silber beschlagen dargestellt. Vielleicht befand sich das Holz des Wahren Kreuzes damals schon in jener Umhüllung. Der Rest der Geschichte ist dir bekannt.«
Onkel Jean war ganz in seinem Element und sprach mit einer Begeisterung, die sich auf mich übertrug.
»Eins verstehe ich nicht«, sagte ich nach kurzem Überlegen. »Wenn es verschiedene Teile des ursprünglichen Kreuzes Jesu gibt, die als Reliquien verehrt werden, wieso wird dann ausgerechnet jenem Teil, den die Kreuzritter in der Schlacht bei Hattin mit sich führten, solch großer Wert beigemessen, daß noch heute Menschen dafür ihr Leben lassen müssen?«
»Um das zu verstehen, Bastien, mußt du das Wesen einer Reliquie begreifen.«
»Sie haben es eben selbst gesagt. Eine Reliquie ist der Überrest eines Heiligen oder eines ihm gehörenden Gegenstands, den die Gläubigen verehren.«
»Aber warum verehren sie ihn?«
»Weil sie sich von ihm und damit von Gott Hilfe er-hoffen, ein Wunder in großer Not vielleicht.«
Mein Onkel klatschte in die Hände. »Bravo, Bastien, du hast es erfaßt! Die Bedeutung einer Reliquie liegt nicht darin, daß ihr tatsächlich eine wundertätige Kraft innewohnt, sondern darin, daß man sich diese Kraft von ihr erhofft. Je größer die Hoffnung, desto fester der Glaube an ein mögliches Wunder und desto größer die Bedeutung, die der Reliquie zukommt.«
»Dann liegt die Bedeutung des Wahren Kreuzes von Hattin also darin, daß Ritter und Soldaten sich von ihr Unbesiegbarkeit im Kampf erhofften?«
»Ja, und diese Hoffnung hat sich offenbar über die Jahrhunderte erhalten. Vielleicht glauben die Ritter vom Verlorenen Kreuz, sie könnten mit Hilfe des Kreuzes das Heilige Land für die Christen zurücker-obern.«
»Wenn sie sich nicht beeilen, kommt Bonaparte ihnen zuvor.«
»Unterschätz diese Ritter nicht, Bastien, nur weil sie mit altertümlichen Waffen kämpfen. Sie haben ihre Gefährlichkeit mehr als einmal bewiesen. Noch gefährlicher als ihre Waffen sind vielleicht ihre Pläne, die wir nur erahnen können. Und jetzt, da Ourida in ihrer Gewalt ist, sind sie der Verwirklichung ihres Vorhabens womöglich ein Stück näher gerückt.«
»Sie glauben also tatsächlich, daß die Ritter Ourida haben?«
Onkel Jean sah mich mitfühlend an. »Ich wünschte, ich könnte dir etwas Beruhigenderes sagen, aber das Schwert, das du in Bonapartes Garten gefunden hast, läßt gar keinen anderen Schluß zu.«
»Ich habe es bei einem Muslim gefunden, einem stummen Muslim, wie auch der Mörder Abuls einer gewesen ist«, brachte ich ihm in Erinnerung. »Warum helfen die Anhänger Mohammeds den Kreuzrittern,
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