Das Wahre Kreuz
Be-wohnern. Standen keine Wachen auf den Mauern? Das Bollwerk wirkte wie seit den Tagen der Römer verlassen, die es vermutlich erbaut hatten, um eine durch das Tal führende Karawanen- oder Heerstraße zu schützen.
Aus der Nähe sah ich, daß die Festung in Teilen nur noch eine Ruine war. Einige Mauern waren eingestürzt, so daß mögliche Angreifer leichtes Spiel gehabt hätten.
Ich fühlte mich wie der Prinz im Märchen, der das ver-wunschene Schloß aufsucht, um die von einer bösen Fee verzauberte Prinzessin zu erlösen.
Stück für Stück folgte ich einem gewundenen Weg den Hügel hinauf zu einem großen Tor, das so baufällig war, daß man es nicht mehr schließen konnte. Noch immer sah und hörte ich nichts. Langsam ritt ich durch das Tor, und mein Blick glitt über die dunklen Fassa-den der jahrhundertealten Gebäude. Hier sollten tatsächlich die Ritter vom Verlorenen Kreuz ihren Stützpunkt haben? Die Vorstellung erschien mir jetzt vollkommen absurd.
Als ich den Braunen zurückriß, weil ich vor uns einen Schutthaufen erblickt hatte, über den er wohl gestolpert wäre, stieß er ein empörtes Wiehern aus. Sekunden später ertönte ein weiteres Wiehern, aber es kam nicht von meinem Pferd. Das andere Tier mußte sich in der Nähe befinden, irgendwo hier auf der Burg.
Also doch, dachte ich. Wo es Pferde gibt, gibt es meist auch Menschen.
Ich hörte Schritte, die lauter wurden. Aus den Schatten der Gebäude löste sich eine Gestalt, die auf mich zukam. Unwillkürlich wollte ich nach den Pistolen greifen, die in den Futteralen am Sattel steckten, aber ich zögerte, wollte ich doch Ouridas Leben nicht durch eine unbedachte Handlung gefährden.
Der Mann, dessen Gesicht endlich im Mondlicht auftauchte, war weder Ritter noch Europäer. Vor mir stand ein hagerer Orientale, dessen Alter ich auf fünfzig oder fünfundfünfzig Jahre schätzte. Er trug ein weißes Gewand und einen weißen Turban. Waffen konnte ich nicht entdecken, wenngleich er welche in den weiten Falten des Gewands versteckt haben mochte.
Ich grüßte ihn auf französisch und dann auf arabisch. Er sagte nichts, machte aber eine Drehbewegung mit der rechten Hand, die mir geläufig war. Das Hand-zeichen war die Aufforderung mitzukommen.
Also stieg ich vom Pferd und folgte dem Unbekannten, den Braunen mit mir führend, zu den Gebäuden, von denen her er gekommen war.
Dort wiederholte er seine Geste, was ich als Aufforderung auffaßte, ihn ins Innere zu begleiten. Ich sah mich nach einer Möglichkeit um, den Braunen anzu-binden. Da erschien ein weiterer Mann, fünfzehn oder zwanzig Jahre jünger als der andere, aber ähnlich gekleidet, und streckte die Hand nach den Zügeln aus.
Zögernd überließ ich ihm das Tier und damit auch die beiden Pistolen. Mir war nicht ganz wohl dabei. Ich fragte mich, ob die Ägypter nicht mit mir sprachen, weil sie es nicht konnten. Fehlte ihnen die Zunge, wie sie Abuls Mörder und dem Toten, der aller Wahrscheinlichkeit nach zu Ouridas Entführern gehörte, gefehlt hatte?
Ich unterdrückte die in mir aufsteigende Furcht und den Drang, doch noch nach den Pistolen zu greifen.
Ziemlich sicher stand ich hier auf feindlichem Gebiet, und die Bewohner der Festung waren mir wohl zahlenmäßig deutlich überlegen. Solange die Ägypter sich nicht offen feindselig verhielten, wollte ich keinen Unmut erregen.
Der ältere Mann führte mich nach drinnen, durch un-beleuchtete Gänge und über dunkle Treppen, so verfallen, daß ihre Benutzung schon bei ausreichendem Licht le-bensgefährlich gewesen wäre. Wurde ich gerade in einen Hinterhalt geführt? Ich wäre nicht überrascht gewesen, hätte sich plötzlich eine Falltür unter mir aufgetan.
Aber mein Führer brachte mich wohlbehalten in einen großen, schmucklosen Raum mit langgestreckten Tischen und Sitzbänken. Ein Speisesaal offenbar. Durch Zeichen gab er mir zu verstehen, daß er gehen, aber zurückkehren würde. Ich nickte ihm zu, und er ließ mich allein. Ich blieb mit gemischten Gefühlen zurück.
Bis jetzt hatte ich noch nichts über dieses Gemäuer oder Ouridas Verbleib herausgefunden, aber ich war auch noch nicht vom Schwert oder der Lanze eines Kreuzritters aufgespießt worden.
Durch die offenen Fenster blies der kalte Nachtwind herein und ließ mich frösteln. Im nachhinein erschien es mir wie ein Wunder, daß ich in der unwirtlichen Felswüste da draußen den Weg bis hierher gefunden hatte.
Der Ägypter kehrte mit einer großen Kerze zurück, deren Licht
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