Das Wahre Kreuz
den Braunen über private Anwesen, weil es nur auf diese Art möglich war, bestimmte Posten an heiklen Punkten zu umgehen. Ich baute auf die späte Stunde und die Müdigkeit, die um diese Zeit auch Wachsolda-ten befiel. Zweimal schlugen in meiner Nähe Hunde an, aber niemand schien sich um uns zu kümmern, und endlich, endlich ließ ich die letzten Häuser hinter mir.
Noch ein ganzes Stück führte ich den Braunen am Zügel, dann entfernte ich die Tücher von den Hufen und stieg in den Sattel. Ich ritt nach Südwesten, immer tiefer in die Wüste hinein.
Mein Ziel war die alte Araberfestung, die nur auf einer der beiden Landkarten verzeichnet war. Die betreffende Karte lag nicht mehr in dem Holzkasten, sondern steckte in einer meiner Rocktaschen. Nur sie und ein Kompaß sollten mir helfen, die Festung zu finden.
Gewiß würde Bonaparte mich verfolgen lassen. Mein Onkel kannte die ungefähre Lage der Festung und damit auch die Richtung, in die ich ritt. Ich mußte schneller sein. Deshalb versuchte ich, noch in der Nacht einen möglichst großen Abstand zwischen Kairo und mir zu schaffen. Ich wollte die Festung erreichen, bevor Bonaparte dort mit seiner Armee eintraf!
Den ganzen Nachmittag über und auch jetzt, während meines langen, einsamen Rittes, sah ich Bilder von Tod und Zerstörung vor mir: das Lager der Abnaa Al Salieb. Wieder und wieder durchlebte ich den Angriff der Franzosen, sah vor mir die Sterbenden, Verwundeten, Verzweifelten. Nur durch ein Wunder war ich mit dem Leben davongekommen. Ich mußte verhindern, daß so etwas noch einmal geschah. Wenn Bonaparte die Wüstenfestung angriff, würde er kaum Rücksicht auf Ourida nehmen.
Ich wollte sie nicht sterben sehen, so wie ich Jussuf hatte sterben sehen. Und Rabja. Bei diesem Gedanken krampfte sich mein Herz zusammen.
Natürlich war es vermessen, ganz allein zu der Festung zu reiten. Ich trug noch die beiden Pistolen bei mir, die mir am ersten Tag des Aufstands ausgehändigt worden waren. Eine lächerliche Ausrüstung, auch wenn die Ritter vom Verlorenen Kreuz nur mit mittelalterlichen Waffen kämpften. Wie gefährlich sie waren, hatten sie mehr als einmal bewiesen, und ihre Überzahl war gewiß erdrückend. Ich war mir sicher, daß ich mit Gewalt nichts erreichen würde. Aber vielleicht ließen die Ritter mit sich reden, wenn ich sie vor Bonapartes Angriff warnte.
Möglicherweise konnte ich ihnen auch einen Tausch vorschlagen: Ourida gegen das Wahre Kreuz. Gewissensbisse plagten mich bei diesem Gedanken. Wäre das nicht Verrat an allem, was Roland de Giraud, die erste Ourida und ihre Nachkommen auf sich genommen hatten? Außerdem war fraglich, ob die heutige Ourida sich überhaupt darauf einließ. Nach Jussufs Tod war sie vermutlich die einzige, die wußte, wo die Reliquie versteckt war.
Ich drehte und wendete jede Überlegung, bis ich selbst an allem zweifelte, aber ich ritt weiter, die Nacht hindurch und auch am Morgen. Als die Sonne höher kletterte, stieg ich aus dem Sattel und führte den Braunen am Zügel, um ihn zu schonen. Zur Mittagszeit fand ich einen geeigneten Lagerplatz unter einem schattenspendenden Felsvorsprung. Hier wartete ich, bis die größte Hitze vorüber war. Hin und wieder spähte ich durch das Fernrohr meines Onkels, das ich mitgenommen hatte, nach Nordosten und hielt Ausschau nach Verfolgern. Einmal glaubte ich, eine Staubwolke zu sehen, aber im nächsten Augenblick war sie verschwunden. Ich legte das Fernglas beiseite, und fünf Sekunden später war ich eingeschlafen.
Als die Sonne schon tief im Westen stand, setzte ich meinen Weg fort. Der Kompaß zeigte mir, zumindest ungefähr, die Richtung an.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit kam ich durch ein stark geröllhaltiges Gebiet und mußte fürchten, daß der Braune zu Fall kam. Daher stieg ich ab und führte ihn abermals am Zügel. Obwohl ich in den Mittagsstunden geschlafen hatte, spürte ich eine große Erschöpfung. Ich dachte an unsere Soldaten, denen man nachsagte, daß sie während des Marschierern schliefen.
Mir war das nicht gegeben, und es wäre auch zu ge-fährlich gewesen: Ich wäre unweigerlich von meinem Südwestkurs abgekommen. Also ging ich weiter und erzählte, um wach zu bleiben, dem Braunen meine Le-bensgeschichte.
So überstand ich die Nacht und auch den nächsten Tag, an dem ich mittags in einer Senke lagerte und sogar länger schlief als am Vortag. Trotzdem machte mir die Mischung aus übergroßer Müdigkeit und innerer Anspannung immer mehr zu
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