Das Wahre Kreuz
geklet-tert und hinuntergesprungen sein.
Aber auf welcher Seite des Hauses? Es war schon reichlich dunkel, und in diesem Randbezirk der Stadt hatte sich die von Bonaparte verordnete Straßenbe-leuchtung noch nicht durchgesetzt. Die Häuser verwandelten sich zusehends in nur schemenhaft wahr-nehmbare Gebilde, zwischen denen ein einzelner Mensch mit Leichtigkeit untertauchen konnte.
»Den finden wir nicht mehr«, meinte dann auch einer der Grenadiere.
»Wir sollten es wenigstens versuchen«, erwiderte mein Onkel. »Ich glaube nicht, daß Abul zufällig ermordet wurde, von irgendeinem dahergelaufenen Räuber.«
Erstaunt sah ich Onkel Jean an. »Sie meinen, er sollte zum Schweigen gebracht werden?«
»Alles andere würde mich überraschen. Der Mörder kann uns vielleicht sagen, was Abul uns nicht mehr verraten kann. Aber dazu müssen wir ihn erst einmal finden!«
Eilig stiegen wir wieder nach unten und verließen das Haus. Draußen verteilten wir uns in sämtliche Himmelsrichtungen, um nach dem Flüchtigen zu suchen. Angesichts der hereinbrechenden Dunkelheit glaubte ich kaum an einen Erfolg und schlug mehr aus Pflichtbewußtsein aufs Geratewohl einen schmalen Weg ein, der von der Gasse abzweigte. Irgendwann fiel mir ein, daß ich nicht einmal bewaffnet war. Nur das Klappmesser steckte in einer meiner Rocktaschen.
Plötzlich bewegte sich etwas vor mir, und ein Schatten löste sich aus der allgemeinen Dunkelheit. Das karge Mondlicht, das die sich links und rechts von mir erhebenden Häuser durchließen, fiel auf einen orientalisch gekleideten Mann, der mir den Weg versperrte. Er streckte seinen rechten Arm aus, wie um mir die Hand zu reichen. Aber dann sah ich den Dolch und wußte, daß ich den Mörder gefunden hatte. Ich verwarf den Gedanken, mein Klappmesser hervorzukramen. Das hätte viel zu lange gedauert, und außerdem erschien mir die kleine Klinge im Vergleich zu dem großen Dolch meines Gegenübers geradezu lächerlich.
Der Mörder schien erkannt zu haben, daß ich waf-fenlos war, und kam langsam auf mich zu. Ich wich zurück und versuchte, die Panik zu unterdrücken, die in mir hochsteigen wollte. Nicht einmal meinen Onkel und die Grenadiere konnte ich rufen, denn ich vermochte keinen Laut hervorzubringen. Mir war, als be-fände ich mich wieder in dem unterirdischen Tempel und spürte die kettengeschützten Hände des Ritters an meiner Kehle.
Ein schwacher Lichtstrahl fiel auf die große, kräftige Gestalt vor mir. Ich blickte in ein orientalisch anmutendes Gesicht mit schwarzem Vollbart. Über der scharf gebogenen Nase saßen wachsame Augen, die jede meiner Bewegungen verfolgten. Der Mann war noch jung, höchstens vier oder fünf Jahre älter als ich.
Er schien es nicht eilig damit zu haben, mich zu tö-
ten. Es war, als warte er – wie ein Bäcker, der genau weiß, wann er das Brot aus dem Ofen ziehen muß – auf den richtigen Zeitpunkt.
Dieser Zeitpunkt kam schneller, als mir lieb war. Ein Satz des Fremden nach vorn, ein schneller Stoß mit der rechten Hand, und ich sah den Dolch schon in mein Herz eindringen. Meine Angst und die damit verbunde-ne Unachtsamkeit retteten mich, als ich beim ungelenken Zurückweichen stolperte und rücklings zu Boden fiel. Auch der Mörder stolperte jetzt, und zwar über mich. Er landete unsanft auf meiner linken Schulter, die augenblicklich von einem stechenden Schmerz durch-fahren wurde. Der Pfad zwischen den Häusern war nicht breit genug, daß zwei ausgewachsene Männer nebeneinander liegen konnten.
Der Fremde schien sich bei dem Sturz ebenfalls verletzt zu haben, denn er stieß einen Schmerzenslaut aus.
Ein seltsam kehliges Geräusch, wie ich es noch nie ge-hört hatte. Es erinnerte mich an das Knurren eines Raubtiers.
Ich war geistesgegenwärtig genug, die Verwirrung des Mannes auszunutzen, und schwang mich rittlings auf ihn. Wieder stieß er jenes eigenartige Knurren aus, das diesmal klang wie ein Ausdruck unbändiger Wut.
Seine rechte Hand fuhr hoch und wollte den Dolch in meine Brust rammen, aber es gelang mir, sie zu pak-ken und umzudrehen. Wie im Rausch drückte ich die fremde Hand samt Dolch nach unten, ignorierte den Schmerz in meiner Schulter und mobilisierte sämtliche Kraftreserven.
Vielleicht hatte der Mörder sich bei dem Sturz stärker verletzt, als ich angenommen hatte, vielleicht war er auch nur überrascht, jedenfalls gewann ich die Oberhand. Die Klinge fuhr in die Brust des anderen und schnitt tief in das Fleisch. Er öffnete den Mund,
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