Das Wahre Kreuz
als ein Traum gewesen war. Was ich sehr bedauerte.
Ich schwang mich aus dem Bett, ging zu der Anrichte neben der Tür und blickte in den ovalen Spiegel. Mein sonst glattes Gesicht war unrasiert, und die sprießenden Bartstoppeln hatten dieselbe dunkle Farbe wie mein Haar, das durch die Bettruhe in Unordnung gebracht war. Manchmal, wenn schöne Damen in der Nähe waren, zog Onkel Jean mich damit auf, was für ein hübscher Bursche ich doch sei und dass die Frauenherzen bei meinem Anblick höher schlagen müßten. Im Augenblick allerdings konnte ich davon nichts erkennen. Obgleich ich die zweite Hälfte der Nacht im tiefen Schlaf verbracht hatte, sah mein Gesicht grau und müde aus.
Ich benetzte es mit dem Wasser aus der Porzellan-schüssel, um meine Lebensgeister zu wecken. Dabei fiel mein Blick auf das sorgsam zusammengefaltete Tuch neben der Schüssel. Ich trocknete meine Hände und griff erst dann nach dem Tuch. Es war feucht.
Verwirrt ging ich zur Gartentür und öffnete sie in der Hoffnung, die frische Morgenluft könne mir Klar-heit verschaffen. Das Flöten eines Graubülbüls, der im Geäst eines großen, schattenspendenden Eukalyptusbaums saß, erschien mir zu dieser frühen Stunde unan-gemessen munter. Von der Straße, die ich von hier aus nicht einsehen konnte, drangen Stimmen und das Knarren eines Fuhrwerks an mein Ohr, aber in dem friedlichen Garten erschienen mir die Geräusche wie aus einer anderen Welt. Ich folgte dem Gesang des Vogels, setzte mich auf die verwitterte Steinbank, über die sich das Astwerk des Eukalyptusbaums wie ein schützendes Dach wölbte, und sog den belebenden Eukalyptusduft ein. Der Alptraum kam mir zu Bewußtsein, und ich verglich ihn mit dem, der mich draußen in der Wüste heimgesucht hatte. In der vergangenen Nacht war etwas anders gewesen: Die Angreifer hatten das Gesicht des Mörders gehabt.
Ja, er war ein Mörder gewesen, und trotzdem fühlte ich mich schuldig. Immer wieder sagte ich mir, daß mir nichts anderes übriggeblieben war, als ihn zu töten.
Vielleicht hatte ich sogar anderen Menschen das Leben gerettet. Niemand vermochte zu sagen, ob die Ermor-dung des alten Abul eine einmalige Tat gewesen war.
Vielleicht hätte der Mörder erneut zugeschlagen, vielleicht noch viele Male, hätte ich ihn nicht gestellt und gerichtet!
Ich konnte mir das noch so oft sagen, ich wurde die Gewissensbisse nicht los. Einen Menschen zu töten, und mochte er auch noch so schlecht gewesen sein, erschien mir als die größte aller Anmaßungen.
Ich hörte Schritte und blickte auf. Mein Onkel, bereits vollständig angekleidet, trat auf mich zu und be-grüßte mich mit einem Lächeln.
»Guten Morgen, Bastien. Noch nicht angezogen?
Wir sollten nicht zu spät frühstücken, schließlich sind wir bei unserem Nachbarn zum Vormittagskaffee eingeladen. Das hast du doch nicht vergessen?«
Daran hatte ich wirklich nicht mehr gedacht, aber in meiner derzeitigen Verfassung beschäftigte es mich auch nicht übermäßig.
Onkel Jean merkte, daß mit mir etwas nicht stimmte, und fragte, ob ich Sorgen hätte. Ich erzählte ihm von meinem Traum, erwähnte aber mit keinem Wort Ouridas Besuch, mochte er nun Wirklichkeit oder Einbildung gewesen sein. Ich wollte nicht, daß mein Onkel dachte, Ourida hätte einen solchen Eindruck auf mich gemacht, daß ich sogar von ihr träumte.
»Wieder dieser Traum, den du schon in der Wüste hattest, das ist in der Tat seltsam«, sagte Onkel Jean.
»Was genau hat die Stimme gesagt?«
Ich wiederholte die Worte: »Das Kreuz, du mußt es behüten! Rette das Kreuz!«
»Was für ein Kreuz war damit gemeint?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, Onkel, aber das ist es auch nicht, was mich beschäftigt.«
»Was dann?«
»Das Gesicht des Mannes, den ich getötet habe.
Weshalb sucht es mich im Traum heim? Ist das Gottes Strafe dafür, daß ich gegen das sechste Gebot verstoßen habe?«
Mein Onkel schüttelte den Kopf. »Du hattest keine Wahl, und deshalb war deine Tat gerechtfertigt. Au-
ßerdem war dieser Mann kein Christ.«
»Aber er war ein Mensch, und ich fühle mich schuldig.« Ich fiel vor ihm auf die Knie, faltete die Hände wie zum Gebet und blickte flehend zu ihm auf. »Bitte, Vater, erteilen Sie mir Absolution!«
Vater – so hatte ich ihn schon lange nicht mehr genannt.
Stirnrunzelnd sah er mich an und fragte: »Bereust du, was du getan hast?«
»Ja, Vater.«
»Rührt deine Reue aus tiefem Abscheu vor deiner Tat und nicht nur aus der Furcht vor
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