Das Wahre Kreuz
und ich bedauerte sehr, daß sie uns verließ. Unser Gastgeber stieß einen Seufzer aus. »Zuweilen frage ich mich, ob ich Aflah nicht zu viele Freiheiten gewährt habe, als ich ihr vieles von dem erlaubte, was sonst nur einem Mann gestattet ist. Sie ist und bleibt nun mal eine Frau, wallâhi – bei Gott.«
»Ihre Empfindungen sind wohl weniger eine Frage des Geschlechts als vielmehr eine des Alters«, entgegnete mein Onkel. »Wenn man jung ist, sieht man das Weiße besonders weiß und das Schwarze besonders schwarz, wobei man vergißt, daß die meisten Dinge eher grau sind. In der Jugend erregt sich der Mensch über den Zustand der Welt, im Alter durchschaut er die Wahrheit hinter den Dingen und wünscht sich doch so manches Mal den Zustand jugendlichen Überschwangs zurück, weil die Welt nur mit den Augen der Jugend einfach und überschaubar erscheint.«
»Das sind weise Worte, Herr Professor. Ich freue mich, daß Sie meiner Tochter nichts nachtragen. Aber wenden wir uns etwas anderem zu. Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?«
Mein Onkel blickte irritiert drein. »Was meinen Sie, Maruf ibn Saad?«
Der Ägypter wies auf die beiden Päckchen, die neben uns lagen. »Sie haben da etwas mitgebracht, dafür muß es einen Grund geben. Da Sie Archäologe sind, dachte ich, Sie wollten mich bei der Bestimmung eines Fundes um Rat fragen.«
»So ist es tatsächlich, wobei es sich um zwei ganz besondere Fundstücke handelt.«
Mein Onkel schlug die Tücher auseinander. In einem lag der Dolch des Mörders, die Klinge mit dem Blut ihres ursprünglichen Besitzers verklebt, in dem anderen das Schwert aus dem Tempel.
»Nehmen Sie die Waffen ruhig zur Hand und betrachten Sie sie aus der Nähe«, ermunterte er unseren Gastgeber, der sogleich seine Hände nach dem Schwert ausstreckte.
»Dieses Schwert haben wir vor wenigen Tagen in der Wüste erbeutet, ungefähr zwei Tagesmärsche von Kairo entfernt. Bei einer Tempelruine wurden wir von Männern angegriffen, die wie mittelalterliche Kreuzritter gekleidet waren und die auch mit den Waffen von Kreuzrittern kämpften. Waffen wie dieses Schwert.
Gestern abend wurde der Mann, der uns zu dem Tempel geführt hat, ermordet, mit diesem Dolch. Das Blut, das daran klebt, ist allerdings auch das des Mörders.
Mein wackerer Neffe Bastien hat ihn gestellt und seiner gerechten Strafe zugeführt.«
Erstaunt blickte der Ägypter meinen Onkel an. »Das ist eine Geschichte, wie die Kameltreiber sie abends am Feuer erzählen!«
Onkel Jean lächelte. »Ehrlich gesagt, ich hätte die Geschichte auch nicht geglaubt, hätte ich sie nicht selbst erlebt.«
»Entschuldigung, Professor Cordelier, ich halte Sie natürlich weder für einen Lügner noch für einen Auf-schneider. Aber Männer in der Tracht von Kreuzrittern? Das hat es in diesem Land – zum Glück – seit Jahrhunderten nicht gegeben. In welcher Sprache verständigten sie sich?«
»Die Ritter in der Wüste sprachen ein etwas seltsam klingendes Französisch, jedenfalls einige von ihnen.«
»Inwiefern seltsam?«
»Altertümlich, als entstamme auch die Sprache dem Mittelalter.«
»Und der Mörder Ihres Führers? Hat er nichts mehr gesagt, bevor er starb?«
»Er hätte auch nichts sagen können, wenn er am Leben geblieben wäre, denn ihm war die Zunge abgeschnitten worden. Übrigens kam er uns nicht wie ein Franzose vor, eher wie ein Einheimischer.«
»Warum vermuten Sie einen Zusammenhang zwischen dem Mord an dem Führer und dem Angriff dieser Ritter gegen Sie?«
»Beide Waffen sind nach mittelalterlicher Art gefertigt. Und beide sind am Knauf mit zwei Kreuzen verziert, einem hellen und einem roten, hier, sehen Sie!«
Mein Onkel zeigte dem Ägypter die Kreuze und erzähl-te von den Mänteln der Ritter, die ebenfalls mit einem weißen und einem roten Kreuz geschmückt gewesen waren. »Für mich steht außer Frage, daß der Mörder uns nach Kairo gefolgt ist oder aber hier gedungen wurde. Entweder sollte er unseren Führer Abul dafür bestrafen, daß er uns den Weg zu dem Tempel gezeigt hatte, oder er sollte etwas herausfinden.«
»Was?«
Nach kurzem Zögern antwortete Onkel Jean: »Vielleicht den Aufenthaltsort der Wüstenrose.«
»Eine Wüstenrose? Sie sprechen wahrhaftig in Rätseln.«
»Sie werden es gleich verstehen«, sagte mein Onkel und erzählte von der schweigsamen Frau mit dem Kupferhaar, die wir aus dem Tempel, gerettet hatten.
»Ich glaube Ihnen, auch wenn Sie mit dieser Geschichte ohne weiteres als
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