Das Wahre Kreuz
mir standen, als hätte ich die Szenen leibhaftig miterlebt. Ich hörte das Klirren der Waffen, das Wiehern der Pferde und das Knarren des Sattelzeugs. Ich spürte den heißen Atem der Wüste im Gesicht, fühlte den feinen Sand, für den Kleidung kein Hindernis war und der wie eine zweite Haut auf mir klebte. Ich ritt mit meinen Brüdern in den Kampf für unseren gütigen, allmächtigen Gott und seinen Sohn Jesus Christus. Vor uns füllte eine lange Reihe Ungläubiger den Horizont, Berittene und Fußkämpfer, Bogenschützen und Männer mit Steinschleudern. Ihre dunklen, sonnenverbrannten, bärtigen Gesichter wirkten fest entschlossen, ganz so wie unsere. Wir hoben unsere Schwerter, trieben die Pferde an und preschten auf die feindlichen Reihen zu …
Ich schüttelte den Kopf und fuhr mir über die Augen, um die Bilder einer Schlacht loszuwerden, die sich viele Jahrhunderte zuvor zugetragen hatte und die mir doch auf eigentümliche Weise gegenwärtig erschien.
Die Walstatt verblaßte. Ich saß wieder – oder noch immer – an unserem Tisch in der Bibliothek. Statt langer Reihen bis an die Zähne bewaffneter Krieger umgaben mich nicht enden wollende Regale voller Bücher.
Die Wüstenschlacht schien nur ein Trugbild gewesen zu sein, aber allmählich fragte ich mich, was Einbildung und was Wirklichkeit war. War ich in Wahrheit ein Kreuzritter, der all dies hier nur träumte?
Onkel Jean bedachte mich mit einem besorgten Blick. »Was ist los mit dir, Bastien? Du atmest so schwer, und deine Wangen sind gerötet. Geht es dir nicht gut?«
»Nur eine kurze Atemnot«, beschwichtigte ich.
»Willst du nach draußen gehen an die frische Luft?«
»Danke, nicht nötig, es geht schon wieder.«
Ich beugte mich über mein Buch und versuchte, mich auf die Lektüre zu konzentrieren. Der vierte, der fünfte, der sechste und der siebte Kreuzzug lagen noch vor mir.
Bislang hatte ich nicht den geringsten Hinweis auf die geheimnisvollen Ritter mit dem Doppelkreuz entdeckt.
Ziemlich entmutigt blätterte ich weiter und war froh, als ich durch eine allgemeine Unruhe abgelenkt wurde.
Die Bibliotheksbesucher auf der mir gegenüberliegenden Tischseite blickten einer nach dem anderen erstaunt auf. Offenbar war in der Tür, die sich in meinem Rücken befand, jemand erschienen, den sie interessanter fanden als die Bücher, in denen sie lasen. Ich wandte den Kopf und erblickte den Auslöser der Unruhe.
Ein kleiner, drahtiger Mann in ausgebleichter Generalsuniform stand in der Tür und ließ seinen Blick durch den Lesesaal schweifen. Die leicht gebeugte Haltung und die ausgeprägte, zur Spitze hin gebogene Nase verstärkten noch den Eindruck eines Raubvogels, der sein Jagdrevier nach Beute absucht. Eine dicke dunkle Locke fiel in die Stirn und verlieh dem Gesicht einen Hauch jugendlicher Unbekümmertheit, der im Widerspruch zu den ansonsten strengen Zügen stand. Obwohl der Offizier jung genannt werden konnte – er hatte sein dreißigstes Lebensjahr noch nicht vollendet –, verriet der Ausdruck von Abgeklärtheit in seinen leicht zusammengekniffenen Augen, daß er schon einiges erlebt hatte, mehr als mancher andere Mann in seinem ganzen Leben.
Alle Besucher der Bibliothek erhoben sich von ihren Plätzen und näherten sich dem Eintretenden, um ihn zu begrüßen. Auch Onkel Jean, Maruf ibn Saad und ich standen auf und warteten geduldig, bis wir an der Reihe waren, mit Napoleon Bonaparte zu sprechen. Meinem Onkel gegenüber schlug der Oberbefehlshaber unserer Armee einen besonders freundlichen Ton an.
Sie hatten einander kennengelernt, als Bonaparte Anfang des Jahres in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden war. Mich begrüßte er knapp, aber höflich, und dann ruhte sein Blick forschend auf Maruf.
»Ein Ägypter in unserer Bibliothek, das freut mich sehr«, sagte er schließlich in jenem kantigen Tonfall, dem man anhörte, daß der gebürtige Korse die franzö-
sische Sprache erst in späten Jahren richtig erlernt hatte. »Ich hoffe, bald noch viel mehr von Ihren Landsleu-ten hier zu sehen. Wenn die Kulturen des Morgen- und des Abendlandes sich einander öffnen und gegenseitig befruchten, kann etwas Neues, Großes daraus entstehen.«
Maruf verneigte sich und sagte mit kaum mehr Akzent in seinem Französisch als Bonaparte: »Es ist mir eine Ehre, den berühmten Sultan des Feuers kennenzulernen. Um so mehr, als er nicht nur ein unschlagbarer Feldherr ist, sondern auch ein Förderer der Wissenschaften.«
Sultan des Feuers
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