Das Wahre Kreuz
– diesen Namen hatten die um blumige Wendungen nie verlegenenen Orientalen Bonaparte gegeben. Und dieser schien sich, wie ich seinem Lächeln entnahm, über die Bezeichnung zu freuen.
Mein Onkel richtete wieder das Wort an Bonaparte:
»Bürger General, darf ich Ihnen meinen Nachbarn Maruf ibn Saad vorstellen? Er hat meinen Neffen und mich heute in die Bibliothek begleitet.«
»Heute und hoffentlich noch an vielen anderen Tagen«, sagte Bonaparte, zu Maruf gewandt. »Die Bibliothek des Instituts von Ägypten steht Ihnen zur Verfü-
gung, wann immer Sie es wünschen. Fühlen Sie sich hier wie in Ihrer eigenen, die gewiß auch gut sortiert ist.«
Maruf nickte. »Das ist wahr, aber woher weiß der Sultan des Feuers das?«
»Natürlich ist mir der Name Maruf ibn Saad bekannt. Sie zählen zu den bedeutendsten Gelehrten dieses Landes. Übrigens werden Sie Ihre berühmte Abhandlung über die Bedeutung der Mathematik für die anderen Wissenschaften hier vergeblich suchen. Ich habe sie schon vor geraumer Zeit ausgeliehen und lese sie jetzt zum dritten Mal. Wir müssen uns bei nächster Gelegenheit unbedingt darüber unterhalten!«
Der Ägypter verbeugte sich leicht. »Sehr gern.«
Bonaparte wandte sich an Onkel Jean. »Bürger Cordelier, haben Sie etwas Zeit für mich?«
»Immer, das wissen Sie doch, Bürger General«, erwiderte mein Onkel und begleitete Bonaparte hinaus.
Alle anderen setzten sich wieder, um ihre Lektüre fortzusetzen. Mir aber fiel es nun noch schwerer als zuvor, mich auf mein Buch über die Kreuzzüge zu konzentrieren. Ich hatte Bonaparte nicht zum ersten Mal gesehen, und doch hatte er tiefen Eindruck auf mich gemacht.
Vielleicht, weil er mir so nahe gewesen war.
Obwohl nur einige Jahre älter als ich, hatte er bereits mehr erreicht als die meisten anderen Menschen auf diesem Planeten. Vom armen Militärschüler, der sein Studium nur dank eines Stipendiums absolvieren konnte, war er innerhalb weniger Jahre zu einem der mächtigsten Männer Frankreichs aufgestiegen. In Gedanken ging ich die bedeutendsten Stationen seiner Karriere durch.
Im Jahr 1793 hatte er sich als Artillerieoffizier bei der Belagerung Toulons hervorgetan und sich dadurch die Beförderung zum Brigadegeneral verdient. Zwei Jahre später war er maßgeblich an der Niederschlagung des Pariser Royalistenaufstands beteiligt gewesen, was ihm die Ernennung zum kommandierenden General der Heimatarmee eingetragen hatte. 1796 hatte er den Oberbefehl über die Italienarmee übernommen, die er zu solch glorreichen Siegen über die Österreicher und ihre Verbündeten führte, daß ganz Frankreich – soweit es sich nicht der royalistischen Sache verschrieben hatte
– Heldengesänge auf ihn anstimmte. Nach der Neuord-nung Mittelitaliens, bei der er sich auf den Feldern der Politik und der Diplomatie als ebenso geschickt erwiesen hatte, wie er es als General war, hatte niemand ihm den Wunsch abschlagen können, eine Armee nach Ägypten zu führen.
Daß die Franzosen an der englischen Küste landeten, hatte sich als undurchführbar erwiesen, deshalb wollte Bonaparte die Engländer in ihren Kolonien schlagen.
Das Direktorium in Paris hatte seinem Plan begeistert zugestimmt. Allerdings munkelte man, das Direktorium sei froh gewesen, den immer mächtiger werdenden Korsen möglichst weit weg schicken zu können. Hier in Ägypten stellte Bonaparte seine Fähigkeiten als Feldherr und als Staatsmann erneut unter Beweis. Auch wenn er dem ägyptischen Diwan, den er eingesetzt hatte, zahlreiche Verwaltungsaufgaben übertragen hatte, regierte doch in Wahrheit er das besetzte Land, war hier so einflußreich, wie es das Direktorium in Frankreich war.
In Bonaparte vereinigte sich ein genialer Verstand mit Wagemut und Eifer. Das Glück des Tüchtigen war ihm hold, und sein Charisma riß nahezu jeden mit, an der Verwirklichung seiner Pläne zu arbeiten, mochten sie noch so hochfliegend erscheinen. Auch in dem Moment, als er den Lesesaal betrat, hatte ich es gespürt.
Obwohl von kleiner Gestalt, zog er alle Blicke auf sich und bildete den Mittelpunkt jeder Gesellschaft. Die Soldaten liebten ihn und jubelten ihm zu, wenn er ihre Reihen abschritt oder an ihnen vorüberritt. Sie hatten nicht vergessen, daß er aus ärmlichen Verhältnissen stammte und daher viel mit ihnen gemeinsam hatte.
Blieb nur zu hoffen, daß die große Macht, über die er verfügte, ihn die Sorgen und Bedürfnisse der einfachen Leute nicht vergessen ließ.
»Der Sultan des Feuers
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