Das Wahre Kreuz
gelernt.
»Aber ich bin kein Fremder. Ich war im Haus Ihres Vaters zu Gast. Wir haben uns unterhalten, und damals haben Sie Ihr Gesicht nicht verhüllt, weder vor mir noch vor meinem Onkel.«
»Heute weiß ich, daß es ein Fehler war. Sie mögen Gast im Haus meines Vaters gewesen sein, aber Sie sind dennoch ein Fremder für mich und werden es immer bleiben. Sie kommen aus einem fremden Land, in dem eine fremde Religion herrscht. Mehr noch, in dem man den Gläubigen ihre Lehre schlechtredet und die Gottes-häuser schließt. Ihre Brüder sind in mein Land gekommen und haben meine Brüder und Schwestern gnadenlos getötet. Wie können wir einander da anderes sein als Fremde?«
»Jedes Volk tötet, wenn es sich im Krieg befindet, Aflah, auch das Ihre.«
»Nicht wir haben diesen Krieg begonnen, sondern ihr wart das. Ihr seid über das Meer zu uns gekommen und habt Krieg und Tod, Verwüstung und Verderben in unsere Städte und Dörfer gebracht. Ihr kämpft nicht nur gegen Soldaten, ihr raubt und plündert, und wer sich euch in den Weg stellt, wird getötet!«
Je länger sie sprach, desto leidenschaftlicher wurde ihr Ton; es war eine einzige Anklage.
Ein schlimmer Verdacht stieg in mir auf. »Sprechen Sie von dem Diener, von …«
»Hassan.« Aflah sprach den Namen aus, nach dem ich vergeblich suchte. »Er ist tot, ermordet von den glorreichen französischen Soldaten!«
»Aber der Arzt ist doch bei ihm gewesen. Es hieß, Hassan sei auf dem Weg der Genesung.«
»Zwei Tage später hat sich sein Zustand ohne Vor-warnung verschlechtert. Bevor wir noch Hilfe herbeiru-fen konnten, war er gestorben.«
»Das tut mir leid, ganz aufrichtig.«
Das konnte nur ein schwacher Trost sein. Ich bez-weifelte, daß mein Beileid ihr etwas bedeutete. Sie ließ es mit keinem Wort, mit keiner Geste erkennen.
Mir fiel ein, was Aflahs Vater meinem Onkel und mir erzählt hatte: Aflah und Hassan waren zusammen aufgewachsen, und der junge Diener war für sie beinahe ein Bruder gewesen. Beinahe nur? Mir schien, sie trauerte um ihn wie um einen leiblichen Bruder.
Die weltoffene Aflah hatte sich vollkommen verwandelt. Gewiß, schon vorher war sie auf die Franzosen nicht sonderlich gut zu sprechen gewesen, wie Onkel Jean und ich bei unserem Besuch erfahren hatten, aber die damalige Ablehnung schien sich in blanken Haß verwandelt zu haben. Ich hoffte inständig, daß dies ein vorübergehender Zustand sein möge, hervorgerufen durch den Schock über Hassans Verlust. Es wäre zu traurig gewesen, die kluge und selbstgewisse Aflah an den Haß und die Verbitterung zu verlieren.
Als sie die letzte Frucht eingesammelt hatte und sich erhob, um ihren Weg fortzusetzen, versuchte ich es noch einmal: »So sollten wir nicht voneinander scheiden, Aflah! Ich weiß, daß Hassan großes Unrecht widerfahren ist. Ich schäme mich dafür, daß französische Soldaten das getan haben. Aber es ist nicht mehr zu ändern. In jedem Volk und jeder Religionsgemeinschaft gibt es gute und schlechte Menschen. Wenn die guten für die Taten der bösen verantwortlich gemacht werden, haben die bösen Grund zu triumphieren. Wir sollten ganz in Ruhe miteinander sprechen. Heute mag nicht der Tag dazu sein, aber ich hoffe, wir finden bald eine Gelegenheit!«
»Ihre Worte ehren Sie, aber sie ändern nichts daran, daß wir verschiedenen Welten angehören. Warten Sie nicht auf einen Tag, der niemals kommen wird!«
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und entfernte sich eiligen Schrittes. Mir war, als hätte ich eine Begegnung mit einem Geist hinter mir. Mit einem Geist, der einmal eine hübsche, aufgeschlossene Frau gewesen war.
11. KAPITEL
Der Verräter
as Zusammentreffen mit Aflah hatte mich derart D mitgenommen, daß ich später beim Sprachunterricht nur mit halbem Herzen bei der Sache war.
Immer wieder wanderten meine Gedanken zu der jungen Frau, die nur einen Steinwurf entfernt wohnte und mir nun doch unendlich weit weg erschien, so als gehöre sie einer anderen Welt an – in etwa so hatte sie es ausgedrückt. Ich war unaufmerksam, nahm Ouridas Antworten nicht richtig wahr und mußte mehrmals nachfragen. Wäre ich der Schüler und sie die Lehrerin gewesen, hätte ich einen dicken Tadel eingeheimst.
Ourida aber beugte sich mit besorgter Miene vor und fragte: »Du krank? Du Fieber?«
Was sollte ich antworten? Wie sollte ich ihr angesichts ihres begrenzten französischen Sprachschatzes verdeutlichen, was in mir vorging? Außerdem war es mir nicht angenehm, mit ihr über
Weitere Kostenlose Bücher