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Das Wahre Kreuz

Das Wahre Kreuz

Titel: Das Wahre Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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einfach, die kühle, saubere Luft tief in mich einzusaugen.
    Die Übelkeit aber blieb. Um mich herum drehte sich alles, und sobald ich versuchte, einen Punkt oder eine Gestalt zu fixieren, verschwammen die Konturen und lösten sich vor meinen Augen auf wie ein Schiff, das in eine Nebelbank fährt und mit ihr verschmilzt.
    Ich schlief, und wenn ich erwachte, kam ich trotzdem nicht zu klarem Bewußtsein. Wenn mich nicht die Dunkelheit des Schlafes umhüllte, lag ein dichter grauer Schleier über allem. Meine Verbindung zur Welt der lebenden, denkenden, sprechenden Menschen schien wie durch einen Schwerthieb gekappt.
    Dann wieder spürte ich, daß jemand sich meiner annahm, mich wusch, mir den Schweiß von der Stirn wischte, mir Flüssigkeit einflößte. Zarte Hände berührten meine Stirn und mein Gesicht, und ich flüsterte einen Namen.
    »Ourida!«
    Ich riß die Augen auf, um die Geliebte zu sehen, aber auch vor ihrem Gesicht hingen Nebelschwaden, auch ihre Gestalt drohte im grauen Nichts zu verschwinden.
    Ich griff nach der Hand, die mich streichelte, und hielt sie fest. Wenigstens sie war wirklich da – und nicht nur Bestandteil eines Fiebertraums.
    Phasen dieses verschwommenen Wachseins wechselten mit solchen tiefen, festen Schlafes. Und als ich das nächste Mal erwachte, fühlte ich mich erholt. Helles Licht durchflutete den Raum, und über mir war jemand, der meinen Hinterkopf stützte und mir gleichzeitig aus einem Becher zu trinken gab, angenehm kühles Wasser. Wieder wollte ich Ouridas Namen sagen, aber meine Kehle war so ausgedörrt, daß ich nur ein Krächzen hervorbrachte.
    Die Nebelschleier lichteten sich ein wenig, und ich erkannte, daß ich mich getäuscht hatte. An meinem Lager hockte sehr wohl eine Frau, aber ihr Gesicht war viel zu voll, das war nicht Ourida.
    Dieser mitfühlende Blick, das gütige Lächeln, war das nicht … »Mutter!«
    Ich streckte die Arme aus, um meine Mutter an mich zu ziehen. Dabei stieß ich so heftig gegen ihren rechten Arm, daß sie das Wasser verschüttete. Sie verschwand kurz und kehrte mit einem Lappen wieder, um das Verschüttete aufzuwischen. Ich sah langes graues Haar und begriff, daß die Frau nicht meine Mutter war.
    Meine Mutter hatte niemals graues Haar gehabt, denn sie war viel zu früh gestorben. Damals, als der Schwarze Tod in unser Dorf gekommen war und ein Haus nach dem anderen heimgesucht hatte. Erst war mein Vater an der Pest gestorben und kurz darauf auch meine Mutter, die ihn aufopferungsvoll gepflegt hatte.
    Nur mich hatte die Krankheit verschont, als sei ich Knirps von nicht einmal sechs Jahren es nicht wert, daß sie sich mit mir befaßte. Das alles lag so weit zurück, daß die Gesichter meiner Eltern mit den Jahren verblaßt waren.
    Als ich mein zeichnerisches Talent entdeckte, versuchte ich, ihre Bilder mit dem Bleistift festzuhalten, doch es wollte mir nicht gelingen. Meine Erinnerungen wurden von Gefühlen überlagert, von Sehnsucht, Trauer, Schmerz. Wieder und wieder versuchte ich, das Gesicht meines Vaters oder meiner Mutter zu zeichnen, doch jedesmal war ich am Ende enttäuscht. Mein Bleistift konnte nicht ändern, was das Schicksal längst entschieden hatte: Meine Eltern waren von mir gegangen!
    Aber mein Bleistift half mir, mich durchzuschlagen.
    Ich konnte tatsächlich das eine oder andere Bild gegen etwas zu essen und ein Nachtquartier eintauschen. Und wenn mir das nicht gelang, bestahl ich die, die mir ver-weigerten, was doch jedem Menschen zustand.
    Mit der Zeit wurde ich dreister und bestahl auch diejenigen, die mir etwas für meine Bilder gegeben hatten.
    Ich gewöhnte mich ans Betteln, Stehlen und Lügen, und bald kannte ich nichts anderes mehr. Bis ich eines Tages in einem kleinen Ort, nahe dem Kloster St. Jacques, beim Stehlen erwischt wurde …

    Nur ein Stück Käse und etwas Brot. Ich hatte es schon fast vertilgt, da kam der Bauer, bei dem ich mich bedient hatte, in die Scheune, wo ich mir ein gemütliches Plätzchen eingerichtet hatte. Ich wollte aufstehen und weglaufen, aber er war schneller und hielt mich fest. Er zerrte mich hinaus auf den Hof und lud mit lautem Geschrei alle ein, meiner Bestrafung beizuwohnen.
    Zwei Knechte hielten mich gepackt, während er auf mich einschlug, wieder und wieder. Mein Kopf flog von einer Seite zur anderen, und ich sah mein eigenes Blut spritzen. Mein Schädel schmerzte fürchterlich, so als wolle er jeden Moment platzen.
    Meine Rettung war ein Reiter, der auf den Hof ge-sprengt kam und mit

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