Das Wahre Kreuz
die Knöchel weiß hervortraten. »Diese Bauern mögen fleißig sein und in ihrer beschränkten Art auch gottesfürchtig, aber sie sind entsetzlich dumm, und ihre Roheit stellt alles andere in den Schatten. Das einfache Volk ist zum Arbeiten geboren, aber von allem anderen ist es überfordert. Gebe Gott, daß es in diesem Land niemals eine Stimme haben wird!«
»Amen, Bruder Abbé«, schloß der Infirmarius sich an. »Da sei Gott vor und auch unser guter König Ludwig!«
Der Bruder Infirmarius pflegte mich über Tage und Wochen, bis meine Wunden verheilt waren. Aber was er vorausgesagt hatte, trat ein: Noch lange litt ich unter starken Kopfschmerzen. Und wenn ich, auch in späteren Jahren, aus Unachtsamkeit mit dem Kopf irgendwo hart anstieß, rächte sich das häufig mit einem rasenden Schmerz und mit Übelkeit. Oft konnte ich für einige Zeit nicht richtig sehen, und manchmal befiel mich schweres Fieber.
Abgesehen davon lebte ich mich im Kloster St. Jacques gut ein. Durch meine Begabung wurde ich zum Liebling der Mönche, die ich mal mit ernsthaften und dann wieder mit komischen Zeichnungen erfreute.
Besondere Vorteile verschaffte mir das beim Bruder Hospitarius, der für das leibliche Wohl der Klosterbrü-
der und ihrer Schützlinge sorgte. Er mochte Zeichnungen von Frauen im Evakostüm, wie er mir unter dem Mantel der Verschwiegenheit anvertraute. Wann immer ich ihm eine solche Zeichnung brachte, durfte ich mich auf eine Extraportion honigsüßer Mehlspeisen freuen.
Bis zu dem Tag, da Abbé Jean uns genau in dem Augenblick ertappte, als ich dem Hospitarius eine neue Zeichnung überreichte. Letzterer wurde mit so vielen Strafdiensten eingedeckt, daß er kaum noch zum Schlafen kam.
Ich mußte eine Standpauke über mich ergehen lassen, nach der ich mir kleiner vorkam als eine Ameise.
Aber ich verstand Abbé Jeans Ärger. Er hatte mich gerettet, sorgte für meine Unterkunft und mein Auskommen und ließ mich sogar in der Klosterschule unterrichten – und ich enttäuschte ihn so. Ich schwor mir, das sollte nie wieder vorkommen. Bis auf diesen Zwischen-fall waren die Jahre im Kloster St. Jacques eine glückliche Zeit für mich. Die Mönche unterrichteten in ihrer Schule die Söhne aus besseren Kreisen, aber ebenso einige begabte arme Jungen, und zu letzteren zählte auch ich.
Abbé Jean vermittelte mir stets das Gefühl, ich sei sein besonderer Schützling. Nach Möglichkeit verbrachte er jeden Tag ein wenig Zeit mit mir, um sich mit mir über den Unterricht zu unterhalten, über Fragen der Theologie oder der Geschichte. Besonders lag ihm stets die Archäologie am Herzen, die er mit Inbrunst studierte. Außerdem ermunterte er mich, mit dem Zeichnen fortzufahren, und sorgte dafür, daß ich immer genügend Stifte und Papier zur Verfügung hatte.
Die Idylle, als die mir St. Jacques erschien, wurde durch die Revolution erschüttert. Eine Zeitlang glaubten Ab-bé Jean und seine Brüder, die abgeschlossene Welt des Klosters würde von den radikalen Umwälzungen verschont bleiben, die Frankreich erschütterten, aber dann wurde auf Geheiß Talleyrands die Einziehung der Kir-chengüter zur Deckung der Staatsschulden beschlossen.
Ein Kloster nach dem anderen wurde geschlossen und verlor seinen gesamten Besitz, und schließlich traf es auch St. Jacques.
So wurde aus Abbé Jean der angesehene Archäologe Jean Cordelier, der sich erstaunlich schnell mit den neuen Verhältnissen arrangierte. Ich blieb bei ihm als sein Schüler und Schützling, war ich für ihn doch der Sohn, den er als Abt nicht haben durfte. Wenn er mich jemandem vorstellte, nannte er mich der Einfachheit halber seinen Neffen, und irgendwann sagte ich, auch wenn wir beide allein waren, Onkel zu ihm.
15. KAPITEL
Jussuf und sein Gast
ie Vergangenheit verblaßte und mit ihr meine D Kindheit, die ich ein zweites Mal durchlebt hatte.
Erst unterschwellig, dann immer deutlicher nahm ich wahr, daß ich an einem mir fremden Ort lag, krank, hilflos, und daß jemand für mich sorgte, mich wusch, mir zu trinken und zu essen gab. Verschiedene Gesichter tauchten vor mir auf, meist nur schemenhaft.
Traumbilder? Eine alte Frau mit Runzeln und grauem Haar, das in zwei langen Zöpfen herunterhing. Dann ein anderes Gesicht, noch sehr jung, ein Kind, mit gro-
ßen, neugierigen Augen. Und das Gesicht eines Mannes, schmal und ausdrucksvoll.
»Onkel?« fragte ich, als ich es wieder vor mir sah.
»Onkel Jean?«
Ich kämpfte gegen den Schwindel an, der mich erfassen
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