Das Wahre Kreuz
lernen konnte.
»Ein Naturtalent also, das wird ja immer besser.
Was mag erst dabei herauskommen, wenn dieses Juwel geschliffen wird?«
Der Abt sprach zu sich selbst, und das war auch gut so, denn ich verstand seine Worte nicht. Immerhin begriff ich, daß er mich lobte, und das erfüllte mich mit Stolz. Es war das erste Lob, das ich seit dem Tod meiner Eltern zu hören bekam, seit mehr als zwei Jahren.
Er schaute sich auch die übrigen Zeichnungen an.
Eine zeigte eine gewundene Landstraße, die zu dem nicht weit entfernten Dorf Lamure führte, die anderen beiden waren Porträts meiner Eltern, die besten, die ich je angefertigt hatte. Und doch waren es nur unvollkommene Abbilder, und je länger ich sie betrachtete, desto weniger erkannte ich darauf Vater und Mutter wieder.
»Sind das deine Eltern?«
Ich nickte.
»Wo sind sie?«
Ich legte den Kopf in den Nacken.
»Im Himmel? Was ist mit ihnen geschehen?«
»Die Pest«, sagte ich nur und wischte mir das Blut, das dabei aus meinem Mund sickerte, mit dem schmutzigen Ärmel vom Kinn.
Das Wort »Pest« reichte aus, um alle Umstehenden zusammenzucken zu lassen. Unwillkürlich erweiterten sie den Kreis und gingen auf Abstand zu mir, auch der Bauer und sein Weib.
»Also gut, Abbé, nehmt ihn mit, in Gottes Namen!«
Jetzt drängte Martin regelrecht. »Wir wollen ihn hier nicht mehr sehen!«
»Ich werde sie für dich aufbewahren«, sagte der Abt und schob meine Zeichnungen in seinen Mantel. »Nun komm mit mir!«
Wir gingen zu seinem Pferd, und er half mir hinauf.
Erst war mir unheimlich auf dem großen Tier, aber sobald der Abt hinter mir saß, verflog alle Angst. Ich fühlte mich in sicheren Händen, ganz so wie früher, wenn mein Vater bei mir gewesen war.
Als wir ein Stück von dem Hof entfernt waren, ließ der Abt das Pferd anhalten und fragte: »Wie heißt du, Junge?«
»Bastien. Bastien Topart.«
»Ich bin Abbé Jean. Ich möchte dir sagen, daß du nicht mehr stehlen mußt, Bastien. An dem Ort, zu dem ich dich bringe, wird gut für dich gesorgt werden. Das verspreche ich dir, wenn du mir versprichst, das Stehlen seinzulassen. Bist du damit einverstanden?«
»Ja.«
Er hielt mir seine kräftige Hand hin, die mir geradezu riesig erschien. »Dann laß uns einen Pakt schließen, Bastien!«
Ich legte meine kleine Hand in seine. Ein Pakt, das klang wichtig. Und der Abt schloß ihn mit mir, der ich bis eben noch ein Strauchdieb gewesen war; einer, von dem niemand etwas wissen wollte. Wieder empfand ich Stolz, war voller Glück und Dankbarkeit.
Wir ritten zum Kloster St. Jacques, wo der Abt mich einem seiner Brüder übergab, der sich um meine Verletzungen kümmern sollte. Es war der Bruder Infirmarius, der immer im Kloster die Kranken behandelte. Er reinigte meine Wunden, was weh tat. Obwohl ich mir vorgenommen hatte, tapfer zu sein, weil ich Abbé Jean nicht enttäuschen wollte, zuckte ich mehrmals zusammen, und ein oder zwei Schmerzenslaute kamen über meine Lippen.
Ich blickte den Abt an und murmelte eine Entschuldigung. Der Bruder Infirmarius unterbrach seine Arbeit und sah mich verwundert an. »Was hast du, Junge?
Warum entschuldigst du dich?«
»Weil ich gestöhnt habe«, antwortete ich leise und senkte den Blick. »Ich wollte mich nicht beklagen.«
»Nicht beklagen?« Der Bruder Infirmarius stieß ein heiseres Lachen aus. »Das wäre komisch, wenn es nicht so traurig wäre. Bei solchen Wunden würde manch ausgewachsener Mann lauthals jammern. Und dieser Junge hat ein schlechtes Gewissen, weil er zweimal leise stöhnt?«
»Er hat eine harte Zeit hinter sich«, sagte der Abt,
»und ist darüber selbst hart geworden. Du hättest sehen müssen, wie dieser tumbe Martin auf ihn eingeprü-
gelt hat. Ein Wunder, daß der Kopf noch auf seinen Schultern sitzt.«
Der Bruder Infirmarius nickte. »Ganz recht, Abbé.
Das sieht alles andere als gut aus.«
Ein besorgter Ausdruck trat auf das lange, schmale Gesicht des Abtes. »Wird er bleibende Schäden davont-ragen?«
»Zum jetzigen Zeitpunkt ist das schwer zu sagen.
Vielleicht wird er noch lange unter Kopfschmerzen leiden, möglicherweise sein Leben lang. Ich kann nicht ausschließen, daß auch die Schädeldecke etwas abbekommen hat. Der Kleine sollte aufpassen, daß er mit dem Kopf nicht gegen Wände rennt. Jede heftige Erschütterung könnte üble Folgen haben.« Wieder wurde der Abt wütend, wie ich es schon auf dem Bauernhof gesehen hatte. Vielleicht noch heftiger. Er ballte beide Hände, bis
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