Das Wahre Kreuz
erlaubst, werde ich dich weiterhin Musâfir nennen.«
»Ich habe nichts dagegen, dem Namen hängt nichts Ehrenrühriges an.«
»Im Gegenteil, er bezeugt die Achtung, die wir dir entgegenbringen.«
»Du sagst ›wir‹, Jussuf, aber wer seid ihr? Wo bin ich eigentlich?«
Abwehrend hob er die Hände. »Nicht so viele Fragen auf einmal, Musâfir. Der Hakim hat gesagt, daß wir dich schonen sollen. Wenn du aus dem langen, hei-lenden Schlaf erwachst, darfst du nicht zu sehr in Anspruch genommen werden.«
»Hat das auch der Hakim gesagt?«
»Ja. Und er will gerufen werden, sobald du zu dir kommst. Das werde ich jetzt gleich tun. Vielleicht solltest du in der Zwischenzeit etwas essen. Oder hast du keinen Hunger?«
Ich legte eine Hand auf meinen Bauch. »Doch, gro-
ßen sogar. Da drin fühlt es sich reichlich leer an.«
Jussuf lachte, und das Aufblitzen seiner weißen Zäh-ne bildete einen starken Kontrast zu seiner dunklen Haut. »Dann werde ich Muna sagen, sie soll dir etwas von ihrer Hammelsuppe bringen.«
Kurz nachdem er gegangen war, erschien die Frau mit den grauen Zöpfen an meinem Lager. Ihr runzliges Gesicht ließ auf ein hohes Alter schließen. Ihre Gestalt war gekrümmt, ihr Gang aber fest und sicher. Sie brachte einen tönernen Topf, in dem ein klobiger Holz-löffel steckte, und ließ sich neben meinem Lager nieder, ohne ein Wort zu sagen. Ihre knotige Rechte nahm den Löffel und fütterte mich wie ein kleines Kind. Ich ließ es geschehen, obwohl ich Arme und Hände bewegen konnte. Solange der Hakim, der Arzt, mich nicht untersucht hatte, wollte ich mich nicht zu sehr anstrengen.
Die Suppe war heiß und kräftig, mit viel Fleisch und Gemüse, das ich nicht kannte, mir aber gleichwohl schmecken ließ.
Irgendwann kehrte Jussuf zurück, in Begleitung eines Mannes, unter dessen weißem Turban ebenso weißes Haar hervorlugte. Die Spitze seines weißen Kinnbartes reichte ihm bis auf die Brust. Das musste der Hakim sein, zumal er eine Tasche bei sich trug, die mich an die erinnerte, die europäische Ärzte benutzten.
»Genug jetzt mit der Suppe«, sagte er auf arabisch.
Muna, die mir gerade einen weiteren Löffel in den Mund schieben wollte, hielt inne und bedachte den Störenfried mit einem abweisenden Blick.
»Musâfir ist hungrig, Hakim«, erklärte Jussuf. »Das hat er mir selbst gesagt.«
»Das glaube ich, aber er sollte sich nicht gleich so vollstopfen. Wie ich Muna kenne, schwimmt ein ganzer Hammel in dem Topf. Das Fleisch könnte dem Kranken schwer im Magen liegen, wenn er zuviel auf einmal davon ißt.«
Er hatte arabisch gesprochen, weshalb ich nicht jedes Wort verstand, aber seine Gesten waren eindeutig.
Ein Wink von Jussuf, und Muna erhob sich, nicht ohne mir den bereits gefüllten Löffel noch schnell in den Mund geschoben zu haben. Im Hinausgehen murmelte sie etwas Unverständliches vor sich hin. Dem Stirnrunzeln des Hakims konnte ich entnehmen, daß ihre Worte ihm gegolten hatten und nicht eben freundlich gewesen waren.
Während ich noch auf einem dicken Fleischbrocken herumkaute, begann er mich zu untersuchen. Er mochte nicht nach europäischen Maßstäben ausgebildet sein, aber er machte seine Sache sehr gründlich. Behutsam tastete er meinen Kopf ab und schien sich genau zu merken, an welchen Stellen die Berührungen mir Schmerzen bereiteten. Anschließend untersuchte er meine Augen, blickte tief in meine Pupillen und ließ mich in verschiedene Richtungen schauen. Seine Anweisungen gab er dabei in meiner Sprache. Daß das Französische in einem Beduinenlager so verbreitet war, fand ich erstaunlich. Als ich eine entsprechende Frage stellte, erwiderte der Hakim: »Du hast gewiß viele Fragen, Musâfir. Aber die Antworten würden zu neuen Fragen führen und so weiter und so weiter. Du bist noch geschwächt, und das Gespräch wäre dem Schmerz in deinem Kopf förderlicher als deiner Genesung. Stell deine Fragen, wenn es dir besser geht. Jetzt solltest du noch etwas schlafen. Trink das, es wird dir guttun.«
Er füllte etwas Flüssigkeit aus einer kleinen, bauchi-gen Flasche in einen Becher und reichte ihn mir. Der bräunliche Saft schmeckte süß, nach Honig und Ge-würzen. Ich leerte den Becher, und schon bald wurde ich schläfrig. Die Gestalten Jussufs und des Hakims verschwammen, und ich sah eine grüne Landschaft vor mir. Auf einem sanft geschwungenen Hügel erhob sich eine wohlvertraute Ansammlung von Gebäuden, das Kloster St. Jacques. Selig tauchte ich in die glücklich-sten
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