Das Wahre Kreuz
weiß ich nicht. Manche Menschen haben Angst davor, und deshalb bleibt meine Familie meistens für sich.« Sie stockte, wiederholte:
»Meine Familie!«, und jetzt war es ein Aufschrei.
Ich hielt sie nicht länger für verrückt oder in den Klauen eines plötzlichen Fieberanfalls gefangen. Ob sie die Gabe, von der sie sprach, wirklich besaß, wußte ich nicht. Aber ich erkannte, daß sie irgend etwas gesehen hatte und daß sie von großer Angst gepackt war. Also ergriff ich ihren Arm und lief mit ihr zurück zum Lager.
Das Beduinenlager lag so ruhig vor uns, daß Ouridas Befürchtungen mir doch lächerlich erschienen. Aber je näher wir kamen, desto klarer wurde mir, daß die Stille eine unnatürliche war. Wir hörten kein Kindergeschrei und nicht das Gespräch der Männer am Feuer. Nur die Flammen loderten wie immer, und der Schein des Lagerfeuers wies uns schon von weitem den Weg durch die Wüstennacht.
Ich ahnte etwas Beunruhigendes, eine Gefahr, und bat Ourida zurückzubleiben. Sie weigerte sich. Die Angst um ihre Familie war stärker als die Sorge um die eigene Sicherheit. Wir hielten auf das Lager zu und wä-
ren fast über etwas Großes gestolpert, das uns im Weg lag. Es war der alte Mann, Okbas Schwiegervater. Er lag auf dem Bauch, das Gesicht zur Seite gedreht, und sein Blick war leer. Die Hände hatte er in den Boden gekrallt wie in einem vergeblichen Versuch, sich am Leben festzuhalten. In seinem Rücken klaffte eine gro-
ße, blutende Wunde.
Entgegen meiner Erwartung schrie Ourida nicht auf. Im Gegenteil, sie gab keinen einzigen Ton von sich, starrte nur kurz auf den Ermordeten. Dann hetzte sie weiter, zum Feuer, zu den Zelten, so schnell, daß ich kaum mithalten konnte.
Am Lagerfeuer lagen weitere Tote, Okba und seine Söhne – und Ouridas Vater!
Alle bluteten, einige aus mehreren Wunden. Auch beim Anblick ihres Vaters schrie Ourida nicht auf, sagte sie kein Wort. Nur ihr Kopf ruckte herum, und sie sah hinüber zu ihrem Zelt. Ich wußte, daß sie an ihre Mutter und die jüngeren Schwestern dachte.
Aus dem Zelt trat ein Mann mit einem Schwert in der rechten Hand. Als er sich dem Feuer näherte, erkannte ich Udaut. Und sein Schwert war voller Blut!
»Da bist du ja, Bruder Roland. Gut, daß du uns auch das Mädchen gebracht hast. Die anderen Ungläubigen sind alle tot.«
»Aber warum?« stammelte ich.
»Warum? Das fragst du, ein Templer? Sind wir nicht in dieses Land gekommen, um es von der Plage der Ungläubigen zu befreien?«
»Die Beduinen waren nicht unsere Feinde. Sie haben uns geholfen, haben uns Wasser gegeben und für Bruder Ludwig gesorgt!«
»Sie wußten, daß wir Ordensritter sind, und sie wußten, daß wir nach Jerusalem wollen. Sie hätten uns verraten können, auch unabsichtlich. Deshalb haben wir beschlossen, ihnen das Schicksal zuteil werden zu lassen, das auch unsere Brüder bei Hattin erleiden muß-
ten: den Tod ohne Gnade.«
» Ihr habt das beschlossen?«
»Wir fünf, ohne dich, Bruder Roland. Wir waren uns deiner nicht sicher. Deine, hm, Zuneigung zu dem Beduinenmädchen hat uns an dir zweifeln lassen. Aber nun, da die Arbeit so gut wie getan ist, wirst du uns sicher wieder ein treuer Gefährte sein. Nur noch das Mädchen …« Er machte einen Schritt auf Ourida zu und hob mit beiden Händen sein Schwert.
Ich handelte, ohne nachzudenken, sonst hätten mich vielleicht mein Templereid und die langjährige Kame-radschaft, die mich mit Udaut verband, zurückgehalten.
Aber meine Angst um Ourida war stärker und drängte jeden Zweifel beiseite. Die doppelköpfige Axt lag in meiner Rechten wie herbeigezaubert.
Mit einem weiten Sprung brachte ich mich zwischen Ourida und Udaut, und noch aus der Bewegung heraus schlug ich zu. Die Axtklinge spaltete Udauts Schädel bis zum Hals, und der Waffengefährte so vieler Schlachten lag tot zu meinen Füßen.
»Mörder!«
Das kam aus dem Eingang des Zeltes, das Okba mit den Seinen bewohnte – bewohnt hatte. Dort stand Gilbert, wie ich selbst bewaffnet mit einer doppelköpfigen Axt, und starrte mich feindselig an.
»Wie konntest du das tun, Roland?« schrie er.
»Udaut war dein Freund. Du warst für ihn wie ein leiblicher Bruder!« Ich sah auch Simon de Lacey und Antoine de Barrault in den Lichtschein des Feuers treten, ebenfalls bewaffnet und ebenfalls mit Feindseligkeit im Blick. Als letzten erkannte ich Ludwig von Kirchheim.
Er war unbewaffnet und wirkte seltsam unbeteiligt.
Wenn er auch bei dem feigen Morden mitgetan hatte,
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