Das Wahre Kreuz
Kupferhaar.«
Langsam setzte ich mich auf und lehnte Rücken und Kopf gegen die kühle Felswand. »Es war kein Traum wie sonst auch. Es war wirklich und unwirklich zugleich. Als wollte jemand mir den Weg weisen. Vielleicht ist es so ähnlich, wenn du Dinge siehst, die wirklich geschehen.«
Ouridas Gesicht verdüsterte sich, und ich schalt mich einen Narren, daß ich von ihrer Gabe gesprochen hatte. Natürlich mußte sie das an den Verlust ihrer Familie erinnern. Seit wir geflohen waren, hatte sie zu meiner großen Besorgnis kaum ein Wort gesprochen.
Am vergangenen Abend war sie mir das erste Mal ein wenig gelöster erschienen, so als begänne sie ganz allmählich, sich mit dem Schrecklichen abzufinden. Und jetzt mußte ich Esel sie wieder daran erinnern!
»Vielleicht war es so etwas Ähnliches«, sagte sie schließlich. »Willst du mir erzählen, was du gesehen –
oder erlebt – hast?«
Froh, mich mitteilen zu können, kam ich der Bitte nach und erzählte ihr jede Einzelheit, an die ich mich erinnern konnte. Als ich geendet hatte, wirkte Ourida nachdenklich. »Manches aus deinem Traum erscheint mir verständlich, anderes wiederum überhaupt nicht.
Mir kommt es so vor, als ob etwas Wichtiges fehlt.«
Da ich unbedingtes Vertrauen zu ihr hatte, griff ich nach der Streitaxt, die neben mir lag, und hob sie hoch.
»Vielleicht ist dies hier der Schlüssel.«
»Die Waffe, mit der du den … den Mörder getötet hast?«
»Das ist mehr als eine Waffe«, sagte ich und öffnete den Schaft.
Ich nahm das Tuch heraus, legte es auf den Boden und schlug es auseinander. Vor uns lag jenes unscheinbare Stück Holz, das Zeuge der Kreuzigung Jesu gewesen war. »Dies ist der Grund, weshalb wir sechs die Schlacht von Hattin vor ihrem Ende verlassen haben«, erklärte ich. »Unser König und unser höchster Priester haben uns den Befehl gegeben, dieses Holz in Sicherheit zu bringen.«
»Warum ist es so wertvoll?«
»Es ist das Holz, an dem unser Erlöser sein Leben hin-gab, bevor sein Vater im Himmel ihn auferstehen ließ.«
»Sprichst du von Isa ibn Mariam?«
»Ja, Ourida, von Jesus, Marias Sohn. Dieses Holz ist das Wahre Kreuz, von dem meine Brüder sich den Sieg erhofften. Vielleicht ist ihnen der Sieg verwehrt geblieben, weil sie den Glauben an die Macht des Kreuzes zu rasch aufgegeben haben.«
Ich nahm das Holz in beide Hände – und war überrascht. Als ich das Wahre Kreuz zum ersten Mal in Händen gehalten hatte, hatte ich vergebens auf ein Zeichen der göttlichen Macht gewartet.
Jetzt aber spürte ich eine starke Kraft, die durch meine Hände und Arme in meinen Leib strömte und ihn mit jener Ruhe und Zuversicht erfüllte, die ich auch am Ende meines Traums empfunden hatte. Es war ein warmes, gutes Gefühl, und ich wünschte mir, es nie mehr missen zu müssen.
Ouridas fragendem Blick entnahm ich, daß ich geistesabwesend gewesen sein mußte. Als sie mir sagte, daß ich, während ich das Holz festhielt, für etliche Minuten starr und unansprechbar gewesen sei, erschrak ich, denn nach meinem Empfinden waren nur Sekunden vergangen. Ich berichtete ihr, was ich gefühlt hatte.
»Das war kein bloßer Traum«, meinte sie. »Gott selbst hat zu dir gesprochen!«
»Du glaubst an Gott?«
»Wir nennen ihn Allâh, ihr nennt ihn Gott. Aber sprechen wir nicht vom selben Schöpfer der Welt?«
»Wenn alle Menschen so denken würden, gäbe es keine Kriege zwischen Christen und Muslimen«, seufzte ich.
»Du selbst denkst auch noch nicht lange so. Aber dein Herz und dein Verstand haben die Wahrheit erkannt. Du hast dich vom Töten abgewendet, und deshalb hat Gott zu dir gesprochen.«
Ich sann über Ouridas Worte nach und über meinen Traum, der sich mir Stück für Stück zu erschließen schien. Die Feinde, die mich bedrohten und mir mit meinem eigenen Antlitz entgegenstarrten, standen für mein bisheriges Leben als Krieger. Aber ich hatte nicht das Schwert zum Schlag erhoben. Ich hatte mich von ihnen abgewendet und war in eine andere Richtung gelaufen, das Kreuz in meinen Händen. So wie ich mich von Gilbert und den anderen abgewendet hatte, vom Morden und Blutvergießen.
»Aber was will Gott von mir?« fragte ich nach einer kleinen Ewigkeit.
Ourida deutete auf das Holz, das ich noch immer umklammert hielt. »In deiner Vision hast du das Kreuz vor den anderen Rittern davongetragen. Vielleicht ist das die Aufgabe, die Gott dir zugedacht hat. Vielleicht sollst du das Wahre Kreuz davor bewahren, daß es wieder in die Hände
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