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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Keiner, ich wollte ohnehin noch alleine mit Ihnen sprechen. Ich habe Suleikas ganze Krankengeschichte anfordern lassen. Das war nicht ganz einfach. Sie war bei so vielen Ärzten in Behandlung. Aber hier habe ich sie.» Er hob ein Mäppchen auf und wog es in der Hand. Es war schwer. «Im Gespräch mit Suleika habe ich festgestellt, dass sie nichts darüber weiß. Nichts über ihre eigene Geschichte. Frau Keiner, ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie als Mutter zu tun haben. Ich bitte Sie nur zu bedenken, dass Geheimnisse noch nie etwas leichter gemacht haben. Denken Sie darüber nach. Reden Sie mit Ihrer Tochter.»
    Â«Wie meinen Sie das?», fragte Erika, als ob sie nicht genau wusste, was er meinte. Es war ein Reflex. Ich war es nicht, er aber auch. «Hat Lukas etwas gesagt?»
    Â«Lukas? Sie meinen Doktor Lukas?» Fankhauser überlegte einen Moment. «Stimmt, der war ja damals auch dabei.» Er blätterte in Suleikas Krankengeschichte. «In der Notaufnahme im Kinderspital. Das hatte ich vergessen. Nein, Frau Keiner – ich habe mich an Sie erinnert. Ich arbeitete damals in der Epilepsieklinik, wissen Sie nicht mehr? Sie waren ein interessanter Fall. Ich habe viel über Sie nachgedacht.»
    Â 
3.
    Gebrochene Rippen konnte man nicht verbinden. Man konnte nichts tun. Nur zuschauen. Das Baby wurde zur Beobachtung auf die Intensivstation gebracht. Eine Krankenschwester schob den kleinen Wagen aus durchsichtigem Plexiglas durch die Gänge, Erika lief hinterher. Man würde sie nicht mehr allein lassen mit ihrem Kind. Jede einzelne ihrer gebrochenen Rippen hätte sich durch Suleikas Lunge bohren können, in ihr Herz.
    Suleika schrie. Je lauter sie schrie, desto mehr Schmerzen litt sie, desto lauter schrie sie.
    Â«Sei froh, dass sie schreit. Das ist ein gutes Zeichen», sagte Helene.
    Erika hatte sie auf der Intensivstation kennengelernt. Helene war schon lange hier. Sie kannte sich aus. Ihre Tochter Malina war mit einem Loch im Herzen geboren worden. Jetzt war sie zwei Jahre alt. Und öfter im Kinderspital als zu Hause. Gerade war sie zum vierten Mal operiert worden und erholte sich nur langsam. Während der Visite wurden die Mütter auf den Gang hinausgeschickt. Sie sollten nicht alles mit ansehen, nicht alles hören. Sie wollten sich aber nicht zu weit entfernen, für den Fall, dass es etwas Neues gab. Einen Hoffnungsschimmer. Ein Warnzeichen. Die Mütter lernten die Blicke der Ärzte zu deuten, mehr auf ihren Ton zu hören als auf ihre Worte. Helene zeigte Erika, wo sich der nächste Verpflegungsautomat befand und welches Fenster sich öffnen ließ, so dass man heimlich eine Zigarette rauchen konnte, ohne sich zu weit von der Intensivstation zu entfernen. Sie wusste, wann die Visiten stattfanden, und konnte die Informationen auf den Monitoren verstehen. Sie beruhigte Erika, dass es um Suleika nicht allzu schlimm stehen könne, solange sie ohne Hilfe atmete. Das tat sie, immer noch, wenn auch unter Schmerzen.
    Max hatte ihr keine Vorwürfe gemacht. Er bot sogar an, ein paar Tage in Zürich zu bleiben, aber da Erika ohnehin im Krankenhaus schlief, war das zwecklos. «Es ist zu früh dafür», sagte Helene. «Spar dir diese Möglichkeit auf. Wenn es länger dauert, müsst ihr euch gegenseitig ablösen können.» Max fuhr zurück ins Glarnerland und schickte ihr Marylou. Erikas Mutter brachte Kleider mit, Schminksachen. Sie zwang ihre Tochter, eine Dusche zu nehmen und sich umzuziehen.
    Â«Hier, versuch die hier.» Sie hielt eine bestickte Bluse in der Hand. «Ich weiß nicht, ob die dir noch passt, mit deiner Figur.» Sie strich über Erikas Bauch, kniff sie in die Seite. «Ja, das muss alles noch weg!»
    Es war Marylou, die Erika erklärte, was die Ärzte dachten: dass sie ihre Tochter misshandelt habe. «So wie du aussiehst, könnte man dich wirklich für eine Verrückte halten. Ich will nur dein Bestes!» Marylou zog ein Wickelkleid aus der Tasche. «Versuch das. Über die Leggins.» Sie band das Kleid locker um Erikas Taille, trat zurück, betrachtete sie prüfend, die Augen zusammengekniffen. «Ja, so könnte es gehen. Nimm die Haare aus dem Gesicht.» Mit den Händen fuhr sie in Erikas Gesicht, strich ihr grob die Haare zurück, drehte einen Knoten hinein, fasste ihn mit einer Plastikklammer, deren Spitzen sich in Erikas Haut bohrten. Erika zuckte zurück.
    Wenn

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