Das wahre Leben
Hausarzt für dich sprechen.»
«Ich hab doch schon einen Hausarzt», sagte Suleika. «Oder? Mam? Was ist mit Doktor Winter?»
«Doktor Winter ist schon lange nicht mehr dein Hausarzt», sagte Erika. «Du bist ja kein Kind mehr.» Sie wusste nicht mehr, wie oft sie den Arzt gewechselt hatte. Keiner hatte gehalten, was sie sich von ihm versprach. Dass er sie beschützte, dass er ihre Tochter beschützte. Erika hoffte, dass Suleika keinen der anderen Ãrzte erwähnte. Darüber wollte sie jetzt nicht reden. Nicht mit Lukas. Lukas, der sie keines Blickes würdigte. Genauso fühlte sich das an: Sie war seines Blickes nicht mehr würdig.
«Wo wohne ich überhaupt?», fragte Suleika jetzt.
«Tja, das ist eine gute Frage», sagte Lukas. «Wo möchtest du denn wohnen?»
«Wen interessiertâs!»
«Mich», sagte Lukas. «Mich interessiert es.»
Es war, als gäbe es sie nicht, dachte Erika. Als sei sie gar nicht da. So mussten sich die Zugvögel fühlen, die auf dem Weg in ein besseres, sonnigeres Dasein gegen ihre raumhohen Zürichbergfenster prallten.
«Ich weià nicht», murmelte Suleika. «Ich will einfach nicht an meine Schule zurück.»
Lukas nickte. «Wie gesagt, ich kann das nicht entscheiden. Ich weià aber, dass Entlassungen nur vormittags vorgenommen werden. Eine Nacht wirst du also noch hier aushalten müssen.»
«ScheiÃe.» Suleika wandte sich von Lukas ab, doch auf der anderen Seite des Bettes stand Erika. Suleika drehte sich auf den Rücken und schaute die Decke an.
«Doktor Fankhauser möchte gerne mit dir sprechen», sagte Lukas in Erikas ungefähre Richtung. Und zu Suleika: «Wir kommen nach der Besprechung wieder, und dann finden wir zusammen heraus, was das Beste ist für dich.» Er stand auf und ging zur Tür. Er ging dicht an Erika vorbei, immer noch ohne sie anzusehen. Sie wollte ihn am Ãrmel festhalten, sich ganz an ihn hinfallen lassen, warum fing er sie nicht auf? Warum half er ihr nicht? Was erwartete er von ihr?
Erika beugte sich zu Suleika und küsste ihre feuchte Stirn. Sie wusste genau, was von ihr erwartet wurde. Sie konnte es nur nicht leisten. Immer noch sagte sie nichts. Nicht das, was sie sagen wollte und auch sonst nichts.
Aus dem Sprechzimmer von Doktor Fankhauser drangen laute Stimmen, die bei ihrem Eintreten verstummten. Und da saà Max. Er stand auf und drehte sich zu ihnen um.
«Du», sagte er zu Lukas. Genau, was Erika bei seinem Anblick auch gesagt hatte. Aber Max sagte es in einem ganz anderen Ton. Nicht Erleichterung lag in ihm, sondern etwas wie Verachtung. Du schon wieder. Nicht: Da bist du ja.
«Da habt ihr euch ja wiedergefunden.» Er küsste Erika förmlich auf beide Wangen und nahm dann ihren Ellbogen, als gehöre er ihm. In gewisser Weise tat er das wohl auch. Erika wunderte sich, wie fremd sich diese Hand auf ihrem Ellbogen anfühlte. Wie ungewohnt dieser Mann roch, den sie schon so lange kannte.
«Ich dachte, du seist in Indien?»
«Offensichtlich nicht.» Diese Ungeduld hingegen, die erkannte sie. Erika nahm sie beinahe erleichtert zur Kenntnis. «Es hat Probleme in der Fabrik gegeben. Ich erzähl es dir später.»
«Was für Probleme?» Hatte Suleika doch richtig gehört? «Was ist los?»
Doktor Fankhauser klopfte mit einem Bleistift auf den Tisch. «Gut, dass Sie alle hier sind», sagte er. Er schaute Erika freundlich an. Sie saà in der Mitte zwischen Lukas und Max, doch sie hielt ihren Blick auf Doktor Fankhauser gerichtet, der sie als Einziger nicht zu verurteilen schien.
«Ich weiÃ, dass Ihre momentane Situation nicht die einfachste ist. Umso wichtiger ist, dass wir jetzt alle zusammenarbeiten. Ihre Tochter Suleika hatte einen epileptischen Anfall, der von einer Ãberdosis Methylphenidat ausgelöst wurde. Leider ist der Missbrauch dieses Medikaments sehr verbreitet. Die aufputschende Wirkung, die gerade Schüler und Studenten schätzen, hat es bei den Patienten, die darauf angewiesen sind, gerade nicht. Im Gegenteil. Es beruhigt und stabilisiert sie. Aber das ist in der Ãffentlichkeit wenig bekannt. Es ist genau diese Art von Missbrauch, die immer wieder in den Medien aufgebauscht wird und die zum schlechten Ruf der Behandlung beiträgt. Ich schreibe gerade einen Artikel über ⦠Aber ich schweife ab.» Er hielt inne und schaute Max an. «Ich
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