Das wahre Leben
die Ãrzte wirklich dachten, sie habe ihr Kind misshandelt, dann sagten sie es nicht. Sie blieben freundlich. Immer wieder fragte jemand, ob Erika sich unterdessen genauer erinnern könne, was passiert sei. Erika beschrieb den Filmriss in immer exakteren Worten. Auch Lukas kam immer wieder vorbei, obwohl es nicht seine Station war. Er sagte nicht viel, schaute nur herein, kontrollierte die Patientenkarte, die Werte auf dem Monitor. Manchmal brachte er etwas zu essen mit. Schokolade, die man nicht im Automaten bekam. Am dritten Tag nahm er Erikas Hände. Er schob ihren Blusenärmel zurück und schaute sich ihre Unterarme an, die grün, blau und gelb angelaufen waren. Als hätte man sie geschlagen.
«Was ist das?»
Erika wusste es nicht.
«Das müssen wir abklären. Ich möchte, dass du zu einem Neurologen gehst.» Er rief seine Chefin an, die Ãrztin, mit der Erika in der Notaufnahme gesprochen hatte. Sie kam in die Intensivstation und schaute sich Erikas Arme an. «Hm», sagte sie. «Haben Sie schon mal eine Hirnstrommessung gemacht?»
«Nein.» Erika wusste nicht, was ihre Unterarme mit ihrem Hirn zu tun hatten, aber sie würde den Termin wahrnehmen. Sie würde alles tun, was man ihr sagte.
«Wir melden Sie in der Epilepsieklinik an. Noch heute Nachmittag.»
Erika verlieà das Krankenhaus. Es war etwas wärmer geworden. Die Hecken rund um den Parkplatz trugen Blüten, die vor drei Tagen noch nicht da gewesen waren. Sie blinzelte in die Sonne. Es kam ihr seltsam vor, im hellen Sonnenschein zur Tramstation hinunterzugehen. Sie fühlte sich wie früher, wenn sie die Schule schwänzte. Als tue sie etwas Verbotenes, als sei sie abgehauen. Sie schaute sich um, ob sie verfolgt würde. Das Licht schien ihr zu hell, die Farben zu grell. Im Tram hörte sie, wie eine Frau zu einer anderen sagte: «Ist das nicht furchtbar!» Und Erika dachte sofort an einen Unfall, an ein krankes Kind. Schon gab es keine Welt mehr auÃerhalb des Kinderspitals. Die beiden Frauen im Tram sprachen über einen Pudel. Furchtbar war, dass sein Besitzer, ein Fernsehmoderator, mit seiner Frau, von der er sich gerade trennte, um ihn stritt. Die beiden Frauen waren sich einig, bei wem der Pudel am glücklichsten wäre: bei dem Mann. Der hatte so liebe Augen. AuÃerdem trat er im Fernsehen auf. Besser ging es doch nicht.
Im Garten vor der Epilepsieklinik traf sie auf Patienten, die Helme trugen und sich unkontrolliert bewegten. Gehörte sie jetzt zu denen? Ihre Kopfhaut wurde mit Salzpaste bestrichen, Elektroden darauf befestigt. Sie musste auf ein blinkendes Licht schauen und auf eine schwarze, sich drehende Spirale. Vielleicht sollte sie hypnotisiert werden. Damit sie eine bessere Mutter würde. Die ihr Kind nicht fallen lieÃ.
«Nehmen Sie Drogen?», fragte der Neurologe nach der Messung. Er hielt die Aufzeichnung in der Hand. Erika schüttelte den Kopf. Sie habe eine untypische Form von Epilepsie, hatte man ihr erklärt. Aus den Zacken und Kurven der Hirnstrommessung war nicht zu erkennen, was sie ausgelöst hatte. Vielleicht die Kopfverletzung, der Reitunfall, als sie acht Jahre alt gewesen war? Unwahrscheinlich.
«Sind Sie als Kind vom Wickeltisch gefallen?»
«Ich weià es nicht.»
«Können Sie Ihre Mutter danach fragen?»
Erika schüttelte den Kopf. «Meine Mutter machte keine Fehler. Nur ich.»
«Sie hatten eine schwere Geburt», sagte der Arzt. Das war keine Frage.
«Ich erinnere mich nicht daran.»
Der Arzt schaute auf. «Ich meine die Geburt Ihrer Tochter, nicht Ihre eigene.»
«Ach so, ja. Sie dauerte zweiundsiebzig Stunden. Warum?»
«Eine schwere Geburt kann als auÃergewöhnliche Belastung manchmal solche Anfälle auslösen. Es gibt etwas, das man umgangssprachlich â¹religiöse Epilepsie⺠nennt. Die Verzückung der Heiligen und so weiter. Eine übergroÃe Spannung, die sich auf diese Weise entlädt. Napoleon habe daran gelitten, heiÃt es.»
Damit konnte Erika leben. Doch der Neurologe war noch nicht fertig mit ihr: «Frau Keiner, die Aufzeichnungen Ihrer Hirnströme weisen darauf hin, dass Sie unter dem Einfluss von Drogen stehen. Was nehmen Sie? LSD? Speed?»
Erika dachte an die amerikanischen Diätpillen, die sie immer noch täglich schluckte. Unterdessen viermal pro Tag. Aber die hatte ihre eigene Mutter ihr gegeben. Die konnten doch nicht
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