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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Gesicht. «Unsere ganze Corporate Identity beruht auf Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit. Alles, wofür ich mich eingesetzt habe, alles, was ich aufgebaut habe, alles geht vor die Hunde. Jetzt droht uns eine Klage, die Medien stürzen sich darauf, nicht zuletzt verlieren wir wichtige Lieferanten. Erika … mir wächst alles über den Kopf. Zum ersten Mal merke ich mein Alter. Ich bin bereit, den Bettel hinzuwerfen. Nur, was hätte Marylou dazu gesagt?»
    Â«Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr», sagte Erika. «Meine Mutter ist tot.»
    Â«Ja.»
    Erika schaute ihn an. «Weinst du?», fragte sie. Er schwieg. Erika verstand nicht, warum sie nichts fühlte. Er war immer noch ihr Mann. Innert weniger Stunden zeigte er sich von seiner schlimmsten und seiner verletzlichsten Seite. Plötzlich fiel ihr Gerda wieder ein. Was Gerda gesagt hatte: Wenn du ihn zurückhaben willst, ist das der Moment, sind das deine Waffen. Erika wollte nicht zurück. Aber sie wollte auch nicht vor.
    Â«Wir können die Fabrik doch retten», sagte sie. «Neu anfangen. Das Haus verkaufen.»
    Â«Es geht nicht nur um Geld. Es geht um Glaubwürdigkeit. Und außerdem …» Max hielt inne. Er seufzte schwer. «Ich hänge sehr an dem Haus, das weißt du doch.»
    Â«Nein, das weiß ich nicht.» Was bedeutete ihm ihr Elternhaus? «Du meinst die Chauffeurwohnung?»
    Â«Nein, ich meine das große Haus. Wenn ich wünschen könnte, Erika, würde ich dort leben. Aber nachdem ich die Stofffabrik ruiniert habe, kann ich mich ja dort auch nicht mehr zeigen. Ich habe alles verloren, alles.»
    Â«Alles?» Was ist mit Suleika, wollte Erika fragen, was ist mit mir? Dann fiel es ihr wieder ein: Sie war gegangen. «Vermisst du mich?», fragte sie. Er antwortete nicht. Er sah sie nicht an. Erika tat, als hätte sie gar nichts gesagt. «Wie konnte das passieren?», fragte sie weiter. «Du hast deine Projekte doch ständig besucht.»
    Â«Nein, Erika, das hab ich eben nicht. Wenigstens nicht so oft, wie du glaubst. Wie ich behauptet habe.»
    Â«Aber es gab doch Bilder … Berichte …» Erika brach ab. War es wirklich das, was sie wissen wollte? «Wo warst du dann?»
    Jetzt sah er sie wieder direkt an. Er sah sie an, als müsste sie die Antwort auf ihre Frage wissen. Und dann wusste sie sie auch: «Im Glarnerland?»
    Max nickte. Er wirkte beinahe erleichtert.
    Â«Marga!» Es klang wieder wie ein Gong in ihrem Kopf.
    Â«Nein, nicht Marga.»
    Â«Aber wer sonst, wer ist denn sonst …» Plötzlich wurde ihr kalt. «Meine Mutter!»
    Max antwortete nicht. Es war nicht nötig. Erika sprang auf und schaffte es gerade noch bis zum nächsten Papierkorb, bevor sie sich übergeben musste. Was nützte ihr die Wahrheit?
    Â«Erika, lass mich erklären.» Er stand hinter ihr, legte eine Hand auf ihren Rücken.
    Sie würgte wieder. Schüttelte seine Hand ab.
    Â«Bitte», sagte er. «Setz dich wenigstens hin. Trink ein Glas Wasser.» Er öffnete eine Tür und ging, ohne sie zu berühren, voraus, führte sie aus dem klimatisierten Gebäude in einen überdachten Gang, in dem sich die Hitze staute. Dort standen ein paar Bänke. Erika setzte sich gehorsam.
    Â«Warte hier auf mich», sagte er. «Ich hole deine Tasche. Lauf nicht weg.» Plötzlich bemühte er sich um sie. Plötzlich wollte er etwas von ihr. Was wollte er? Dass sie ihn verstand. Dass sie ihm verzieh.
    Erika wurde wieder schlecht. Sie wandte sich ab und spuckte ins Gebüsch. Ihr Magen gab nichts mehr her. Sie wünschte sich ein Pfefferminzbonbon, ein Glas Wasser mit Eis, und da stand er vor ihr und brachte ihr beides. Und ihre Tasche. Erika spülte sich den Mund, spuckte wieder aus, trank dann den Rest des Wassers. Dann steckte sie sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund. Es war alt und bröckelig, die angebrochene Rolle lag seit ihrem Umzug in ihrer Tasche, seit sie ihr Trinken nicht mehr versteckte und schließlich aufgehört hatte. Aus dem Augenwinkel nahm sie Max wahr, der neben ihr saß und sie bittend anschaute. Sie versuchte, sich ihm zuzuwenden. Hielt seinen vollen Anblick nur wenige Sekunden lang aus. Wer war dieser Mann? Sie kannte ihn nicht. War das der wahre Max, der sich jetzt zeigte? War es wirklich möglich, dass sie ihn in dreißig Jahren nicht zu Gesicht bekommen hatte? Oder war er im Gegenteil

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