Das wahre Leben
schädlich sein.
«Nein», sagte sie. «Ich nehme nichts.»
«Frau Keiner, wir sehen es doch. Es macht uns die Arbeit leichter, wenn Sie es einfach zugeben.»
«Nein, ich schwöre es! Ich trinke jeden Abend ein Glas Wein, ich rauche schon mal eine Zigarette â also, nicht während der Schwangerschaft natürlich, aber â¦Â»
Der Arzt seufzte. «Nun gut. Wir müssen Sie auf jeden Fall regelmäÃig überprüfen. Ich schlage eine medikamentöse Behandlung vor â¦Â»
Erika sagte ja. Ja zu allem. Dann fuhr sie zum Kinderspital zurück. Im Tram kratzte sie sich die Salzpaste vom Kopf, die über ihre Kleider rieselte.
Als sie wieder auf den Eingang zuging, kam ihr Helene entgegen. Sie trug eine offene Reisetasche, aus der ein Stofftier ragte. Erika lächelte, als sie sie kommen sah, sie fühlte sich, als ob sie in eine Welt zurückkehrte, die sie kannte. Sie ging schneller. Helene langsamer. Erst als sie vor ihr stand, sah Erika, dass Helenes Gesicht zerfallen war. Es hatte sich aufgelöst. Ihr Mund öffnete sich, aber sie sagte nichts, schüttelte nur den Kopf. Mit einer Hand hielt sie Erikas Arm. So stand sie mit offenem Mund. Ein Speichelfaden spannte sich zwischen den Lippen. Sie musste geweint haben. Ihr Gesicht war von der Tränenflüssigkeit zersetzt. Helene schüttelte den Kopf, schüttelte heftig den Kopf, aber es nützte nichts. Ihre Tochter war tot.
Erika drehte sich um, sah vom Parkplatz her einen Mann auf Helene zukommen und eine ältere Frau. Sie riss sich los und ging auf die gläserne Schiebetür zu, in der sich die Familie spiegelte, drei Menschen, die sich aneinander festhielten, Helene sackte zusammen, ihr Mann bückte sich über sie, die ältere Frau versuchte mit ihren Armen alles zusammenzuhalten. Die Tasche lag auf dem Boden, das Stofftier war herausgefallen, ein blaues, felliges Monster. Erika lief schneller, rannte die letzten Meter, bis die sich öffnende Tür das Bild auseinanderriss.
Malina war gestorben. Suleika war auf die normale Station versetzt worden. Drei Tage später wurde sie entlassen. Erika versprach auch den Ãrzten im Kinderspital, allen voran Lukas, dass sie ihre Epilepsie kontrollieren und behandeln lassen würde. Doch sie tat es nicht. Sie sagte niemandem etwas davon. Nicht Max, nicht Suleika, nicht ihrem Hausarzt, nicht Suleikas Kinderarzt. Sie suchte sofort neue Ãrzte und wechselte sie dann regelmäÃig. Suleika hatte nie geröntgt werden müssen. Sie war bis jetzt damit durchgekommen. Dass sie ihr Kind in ihren Armen fast zu Tode gedrückt hatte.
Â
4.
«Was läuft mit diesem Arzt?», fragte Max.
Erika verstand nicht. «Doktor Fankhauser? Er soll der Beste sein. Warum?»
«Nicht der. Ich meine Lukas. Der steht doch auf dich, immer schon, seit damals.»
Erika schaute Max an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Wer war dieser Mann? Ein unangenehmer Wichtigtuer. Ein eitler Schwätzer. Warum hatte sie das nie gesehen? Oder hatte sie es gesehen und immer gedacht: erst recht? Ich will den, der mich nicht will?
Er hatte auf sie gewartet. Als sie in Suleikas Zimmer kam, saà er auf ihrem Bettrand. Sie beugten sich über sein Handy und lachten.
«Mam, das musst du sehen!», rief Suleika. Sie schien Erika verziehen zu haben. Vorläufig.
«Ich dachte, Handys sind im Spital nicht erlaubt?»
«Ach, Quatsch! Und wenn schon, wer soll uns verraten, du vielleicht?» Max forderte sie heraus. Mit einem Blick. Und Erika lächelte. Sie spielte mit. Sie würde weiter mitspielen. Sie war auf Max angewiesen. Auf seine Unterstützung. Sie würde nicht tun, was Doktor Fankhauser ihr geraten hatte. Wie konnte sie? Wie konnte Suleika ihr je verzeihen, dass sie sie beinahe umgebracht hatte? So beugte sie sich über das Handy und schaute sich das Video an. Eine Werbung für Billigmöbel, eine Frau klappte ihr Bett mitsamt dem Liebhaber darin an die Wand hoch. Sie zwang sich ein Lächeln ab.
«Dad, du riechst wie ein Puff», beklagte sich Suleika.
«Das ist Mamas Parfüm.» Wieder dieser Blick: Wagst du es, etwas zu sagen? Erika wagte es nicht. Sie würde es nie wagen. Das wusste er auch. Max strich seiner Tochter übers Haar. «Nun, Sully, du kannst es dir ja bis morgen überlegen. Wir machen keinen Druck, das haben wir besprochen, nicht, Erika? Das haben wir mit den Ãrzten so besprochen.»
Und Erika nickte,
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