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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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schon immer da gewesen, hatte sie ihn nur nicht gesehen, nicht sehen wollen?
    Sie wollte nicht, aber sie fragte doch: «Warum? Warum hast du nicht sie geheiratet?»
    Er öffnete seinen Mund weit, um Atem zu holen für alles, was er ihr sagen wollte. Für alles, was sie gar nicht hören wollte. «Sie konnte sich doch von einem kranken Mann nicht scheiden lassen. Außerdem hätte sie dann die Fabrik verloren. Und als dein Vater starb, war es schon zu spät, da war alles schon eingefädelt.»
    Â«Eingefädelt.»
    Â«Entschuldige, so meine ich das nicht. Ich weiß, es klingt nicht schön. Ich bin auch nicht stolz darauf. Aber man kann dem Leben nicht ausweichen, verstehst du? Gewisse Dinge passieren einfach. Ich hatte nie eine Frau wie Marylou getroffen. Ich war ja noch recht jung, als es mit uns anfing. Sie war alles, was ich nicht haben konnte. Die Frau, das Haus, die Fabrik … Aber es ist nicht … Erst dachte ich, es sei ein Spiel, das sie mir vorschlug, das mit dir. Ich ließ mich darauf ein, wie auf eine Wette. Ich hätte wissen müssen, dass sie alles weit voraus geplant hatte. Und du musst nicht denken, dass sie dich nicht geliebt hat. Sie wollte wirklich nur dein Bestes – und dass sie annahm, dein Bestes sei ich, rührte mich. Ehrte mich auch.»
    Erika würgte wieder. «Ehrte dich? Hörst du eigentlich selber, was du sagst?»
    Abwehrend hob er beide Hände. «Ich bitte dich, nun sei doch nicht so … kleingeistig! Versuch doch zu verstehen, was dahintersteckte. Da war ganz viel Liebe, Erika, nicht nur zwischen Marylou und mir. Auch zwischen deiner Mutter und dir. Und dann seid ihr euch ja so wenig ähnlich, rein äußerlich seid ihr zwei derart verschiedene Frauen, ehrlich, ich habe euch gar nicht als Mutter und Tochter wahrgenommen.»
    Â«Wie kannst du bloß so etwas sagen!» Erika versuchte zu erkennen, ob Max sich über sie lustig machte. Er schien alles, was er sagte, sehr ernst zu meinen. Wie immer. Erika hatte ihn immer für klug gehalten. Intellektuell überlegen. «Stell dir vor, ich würde meinen Liebhaber auf Suleika ansetzen.»
    Â«Erika, das ist jetzt geschmacklos.» Max stutzte. «Hast du denn überhaupt einen Liebhaber?»
    Erika schüttelte verzweifelt den Kopf. Warum konnte sie sich ihm nicht verständlich machen? Sie war doch im Recht! Warum war sie jetzt wieder die Abgedrehte? Es war, als befinde sich ein Energiefeld zwischen ihnen, das ihre Worte auf halbem Weg verfremdete und beim Empfänger keinen Sinn ergaben. So war es immer schon gewesen. Und Erika hatte dreißig Jahre lang geglaubt, es liege an ihr. Sie sei nicht klug genug, nicht bewusst, nicht wach genug, um mit ihrem Mann mitzuhalten. Plötzlich dachte sie, dass es vermutlich sehr viele Menschen auf der Welt gab, die sie nicht verstehen konnte. Deren Handlungen, Entscheidungen, Argumente sie nicht nachvollziehen konnte. Und dass Max einfach einer dieser Menschen war. Und als sie das gedacht hatte, hätte sie aufstehen und gehen müssen. «Warum ist das geschmacklos?», fragte sie dann trotzdem nach. «Weil Suleika fett ist?»
    Â«Sag doch dieses Wort nicht, bitte. Ich weiß wirklich nicht, wie du so engstirnig sein kannst. Von Marylou hast du das jedenfalls nicht.»
    Krachend fielen ganze Brocken ihres Lebens von ihr ab. Dreißig Jahre Lügen. Noch mehr. Auch ihr Vater hatte gelogen. Alle hatten gelogen. Ihre Ehe hatte nie existiert. Ihre Verfehlungen waren gar keine. Sie hatte in einer Theaterkulisse gelebt und sich Vorwürfe gemacht, wenn sie sich in den Stricken verhedderte, an denen die Versatzstücke befestigt waren. Wenn sie im Dunkeln über Scheinwerferstative stolperte. Sie hatte sich zerfleischt, weil sie sich in dieser verzerrten Abbildung der Realität nicht zurechtfand. Dabei hatte sie es die ganze Zeit gewusst: Das war nicht die Realität. Das war nicht ihr Leben.
    Sie hätte den Verstand verlieren können. Sie hatte den Verstand verloren. Wenn der Verstand das war, was sie ausmachte. Sie hatte sich selbst verloren.
    Â«Wer wusste davon? Marga, nicht wahr? Marga hat euch gedeckt.»
    Â«Marga und Gerda. Gerda war in den letzten Jahren meine Vertraute. Weißt du, ich bin kein Monster, ich fühlte mich natürlich mitverantwortlich für deinen Zustand. Der Grund, warum ich oft so abweisend zu dir war, warum ich dich so streng kritisierte, war mein eigenes schlechtes

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