Das wahre Leben
schon gar keine Worte. Nevada wünschte sich, ihr Leben wäre ein Buch, sie könnte es mitten im Glück anhalten, sie könnte «Ende» unter diese Szene schreiben, in der Dante sie in den Armen hielt. Bevor er den Mund aufmachte.
Er hatte es ein paarmal versucht seit gestern Abend. Immer wieder war sie ihm ins Wort gefallen. Sie hatten kalte Pizza gegessen, sie hatten sich alte Filme angeschaut, sie hatten sich geküsst. Sie waren eingeschlafen und wieder aufgewacht. Nevada war ohne Schmerzen aufgewacht, in Dantes Armen, die sie die ganze Nacht festgehalten hatten. Seine Berührung hat meine Nervenenden geheilt, dachte sie. Alles ist gut. Dann wachte er auf und drehte sich um, und ihre Beine begannen zu brennen. Sie richtete sich auf, drückte mit den Daumen in ihre Waden, tief in das weiche Fleisch, zog sie von Knöchel bis zum Knie und wieder zurück.
Dante richtete sich auf. «Ich muss dir ⦠etwas sagen», wiederholte er. Er würde sich nicht daran hindern lassen. Zu sagen, was er zu sagen hatte. Er war blass. Er wirkte aufgeregt. Nicht schuldbewusst. Nicht wie einer, der seine ältere, behinderte Freundin verlassen will, weil er eine jüngere, hübschere, gesündere kennengelernt hat. Oder weil er endlich auf seine Mutter hören will.
«Dann sag es halt.» Nevada hielt den Blick auf ihre Beine gesenkt und dachte: Enthaaren wär auch kein Luxus. Man darf sich nicht gehenlassen, nur weil man glücklich ist.
«Fankhauser war ⦠letzte Woche an einem Kongress in Amerika. Er hat einen Neuroâ¦chirurgen kennengelernt, der Tumore wie meinen ⦠operieren kann. In Chicago. Gangster city !»
«Was, operieren? Ich dachte â¦Â»
«Ich auch! Aber ⦠die Wissenschaft macht ständig Fortschritte, das höre ich, seit ich vier ⦠Jahre alt bin. Und jetzt ⦠ist es so weit!»
«Und was heiÃt das?»
«Das heiÃt, Baby, das ⦠heiÃt, ich fliege ⦠nach Chicago und lasse mir das Teil entfernen.» Seine Stimme überschlug sich beinahe. Er fasste Nevada an den Schultern und schüttelte sie.
Nevada verzog das Gesicht. Sie machte sich los. «Warum? Damit du wieder lügen kannst?» Wer sagte so etwas? Wer sprach aus ihrem Mund?
Dantes Hände fielen von ihren Schultern. «Damit ich krebsâ¦frei bin», sagte er. Seine Stimme klang nicht mehr wie seine Stimme. «Es ist ⦠gefährlich. Ich könnte sterben. Aber ich ⦠könnte auch gesund werden.»
Nevada krümmte sich. Doch sie riss sich zusammen. «Entschuldige», sagte sie. «Ich war nur überrumpelt. Das ist wunderbar. Ich bin so glücklich.»
Dante schaute sie mit hochgezogenen Brauen an. Er kannte sie zu gut. Aber nicht gut genug. Er wusste nichts von ihrer Fähigkeit, Schmerz zu ertragen.
«Es ist noch ⦠nichts entschieden. Die Krankenkasse ⦠muss auch noch mitmachen.»
Geh nicht, wollte Nevada schreien, geh nicht, bleib hier, bleib so, wie du bist. «Ich habe etwas Geld auf der Seite», sagte sie. «Daran soll es nicht liegen.»
Nevada hüllte sich in die graue Decke der Mutlosigkeit, zog sie enger um sich wie einen Mantel, der mit Dornen gefüttert war. Dieser Schmerz war ihr vertraut. Im Gegensatz zum Glück der letzten Wochen. Ein Versehen des Schicksals, das jetzt korrigiert wurde.
Natürlich wollte sie Dante vom Krebs befreit sehen. Er gehörte ihr nicht. Hatte ihr nie gehört. Er war ein schöner, starker, junger Mann, er hatte alles noch vor sich. Er würde Bücher schreiben und Kinder zeugen und Frauen belügen. Er würde niemandem von ihr erzählen, aber vielleicht würde sie in einem seiner Bücher auftauchen, eine absurde Figur, ein verliebter Krüppel.
Ein geheilter Dante würde sich überlegen können, was er sagte. Er würde nicht gleich zugeben, dass er Nevada im Rahmen seiner neuen Perspektive anders sah. So, wie sie war. Zwölf Jahre älter als er, mit einem Bein im Rollstuhl, mit dem andern im Grab. Mit weiÃer Haut und schlaffen Muskeln. Er würde sich langsam abwenden, den Schmerz hinauszögern. Nevada sah alles genau vor sich. Es war unvermeidbar. Was sollte sie tun? Es gab nichts zu tun.
«Hab ich dir ⦠schon mal von Nina erzählt?», fragte Dante.
Nevada schüttelte den Kopf. «Deine Mutter hat sie erwähnt.»
Dante nickte. «Annabelle hat ⦠ihr nie verziehen, dass sie mich allein
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