Das wahre Leben
schon zweimal gefragt hatte, ob Nevada sie nicht zu sich nach Hause einladen wolle, oder Elma, die nicht viel sprach, aber deren ruhige Präsenz Nevadas ersten Eindruck, dass sie eine Anführerin war, bestätigte. Nevada wünschte sich, sie hätte in Teds Aufzeichnungen nicht gelesen, dass Elma ein anderes Mädchen auf dem Pausenplatz blutig geprügelt hatte. Die anderen Mädchen wichen Elma aus. Sie schienen sie zu fürchten. Zu Nevada war sie immer ausnehmend höflich, wenn auch kurz angebunden. Nevada mochte es, wie Elma erst beobachtete, ob Nevada allein über eine Schwelle oder durch eine Tür kam, bevor sie eingriff. Wie sie ihr unauffällig zu Hilfe kam. Nevada fragte sich, ob sie Erfahrung mit Behinderungen hatte. Ob es jemanden gab, den sie pflegte. Das Mädchen war groà und kräftig und immer schwarz gekleidet, die schwarzen Haare eingeölt und streng zurückgebunden. Nevadas persönlicher Bodyguard. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass Elma erst vierzehn Jahre alt war.
Zähneknirschend hatte Nevada akzeptiert, dass sie das Sommerprogramm ohne Rollstuhl nicht durchführen konnte. Selbst wenn sie, wie Sierra vorgeschlagen hatte, in die Siedlung ziehen würde.
«Der Rollstuhl wird Ihnen die Freiheit zurückgeben, die Sie verloren glauben», hatte Doktor Fankhauser ihr versprochen. Als ob es egal wäre, wie man sich bewegt. Auf eigenen FüÃen oder in einem Stuhl. Aber was blieb ihr übrig?
Wenn Sierra sie auszahlte, dachte Nevada, dann hätte sie für den Rest ihres vermutlich nicht allzu langen Lebens ausgesorgt. Unabhängig von den Bestimmungen der Invalidenversicherung konnte sie ohne Honorar so viel oder so wenig unterrichten, wie sie wollte. Sie konnte in die Siedlung ziehen und den Mädchen, überhaupt den Bewohnern dort, zur Verfügung stehen. Beziehungsweise sitzen.
Die Invalidenversicherung berechnete nicht, dass Nevada heute, wo sie ihren Beruf nur noch eingeschränkt ausüben konnte, eine bessere Yogalehrerin war als früher. Nevada hatte verstanden, dass, in unterschiedlichem AusmaÃ, jeder versehrt war. Den einen war es bewusst, den anderen nicht. Die einen litten darunter, die anderen merkten es nicht. Die einen kämpften dagegen an, die anderen lieÃen es laufen.
Manchmal, wenn sie sich schwer auf ihre Stöcke gestützt in den Yogaraum schleppte, mit Nervenzuckungen bis in die Hüfte, und ihre Schüler auf den Matten sitzen sah, die Schultern hochgezogen, die Beine zusammengepresst, das Gesicht voll ängstlicher Erwartung, dann dachte sie: Uns allen tun die FüÃe weh.
Diese Erkenntnis hatte alles verändert. Erst jetzt, wo sie von Amts wegen nicht mehr fähig war, ihren Beruf auszuüben, verstand sie, worin dieser Beruf überhaupt bestand. Wenn es die Krankheit war, die ihr zu dieser Erkenntnis verholfen hatte, dann musste sie der Krankheit dankbar sein. Auch wenn sie sie jeden Tag verfluchte: Die Krankheit gehörte zu ihr.
«Gar nicht so schlimm, gell?» Sierra klopfte auf die Armlehne. «Mit Schwarz kannst du alles machen. Bisschen verzieren, paar Nieten auf die Lehne â¦Â»
«Nein, nein!» Die Beraterin des Fachgeschäfts für Sanitätsbedarf erschrak. «Der Stuhl gehört nicht Ihnen. Sie leihen ihn nur. Und wenn Sie eines Tages â¦Â» Sie stockte.
Nevada und Sierra wechselten einen Blick.
«Wenn sie eines Tages stirbt, meinen Sie?», fragte Sierra.
Die Beraterin errötete. «Wenn Sie ihn dann nicht mehr brauchen, müssen Sie ihn zurückbringen. Und dann muss er für den nächsten Patienten zur Verfügung stehen, genau so, wie Sie ihn jetzt übernehmen.»
Nevada musste lachen. Das war ihr in den letzten Tagen immer wieder passiert, dass sie einfach so herauslachte. Als würde in jedem Moment, in dem sich das Gewicht ihrer Decke hob, etwas wie unter Druck entweichen. Freude?
«Aber Sie â¦Â», japste sie. «Aber Sie, das kann noch dauern! Bis ich tot bin, gibt es hoffentlich neuere Modelle.»
Die Beraterin presste die Lippen zusammen und schaute sich hilfesuchend im Geschäft um. Doch sie war allein.
«Das ist das neueste Modell», sagte sie verstimmt. «Das ist der Rolls Royce in unserem Angebot. Sie sind auÃergewöhnlich gut versichert, nicht jeder hat Anspruch darauf.»
«Ich weiÃ. Ich habâs nicht so gemeint», entschuldigte sich Nevada. Die junge Frau tat ihr leid. So
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