Das wahre Leben
war eigentlich unerschütterlich. «Komm, sag schon. Was hast du vor?»
«Ich will etwas anderes aus der Oase machen. Etwas Neues ⦠Weiterführendes, sozusagen.»
«Was denn?»
Sierra atmete aus. «Ein Freudenhaus.»
Ein Freudenhaus. Was für ein schönes Wort, dachte Nevada. In einem Haus der Freude würde sie auch gern wohnen. «Und warum willst du mich nicht dabeihaben?»
«Ich dachte nicht, dass du damit etwas zu tun haben willst. Nevada, du weiÃt schon, was ich damit meine? Ich mache ein Puff auf. Ein Puff für Frauen.» Sierra rieb sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Der Puderzucker hinterlieà Spuren auf dem schwarzen Leder. Sie zog eine Mappe unter dem Tisch hervor, öffnete sie, zeigte Pläne und Skizzen. «Hier unten wäre ein Club, als Ãbergangsbereich, hier kann man auch Musik hören, tanzen, flirten. Sich umschauen, auswählen. Unverbindlich. Anonym. Oben dann die Einzelzimmer mit verschiedenen Themen. Alle Wünsche und Phantasien sollen hier erfüllt werden. In Mamas Sinn biete ich auch Sexualtherapie an für Menschen mit Behinderungen, aber â sorry, Nevada, es tut mir leid, eine Yogalehrerin ist im Konzept nicht vorgesehen. AuÃer du würdest ⦠was hat es eigentlich mit diesem Tantra auf sich?»
Nevada schaute ihre Schwester an. «Tantra hat nicht wirklich etwas mit Sex zu tun.»
«Ach ⦠wirklich nicht? Ich dachte immer, das sei der Aufriss in euren Kreisen, in euren yogischen Kreisen.»
Nevada antwortete nicht. Sie dachte immer noch über den Begriff «Sexualtherapie» nach. Sexualtherapie für Behinderte. Sie war behindert. Würde sie diesen Dienst in Anspruch nehmen können? Würde die Invalidenversicherung dafür aufkommen? Nevada hatte jahrelang nicht an Sex gedacht. Als Yogalehrerin hatte sie ganz darauf verzichtet. Die Ausübung von Brahmacharya, freiwilliger Enthaltsamkeit, hatte ihr Leben sehr viel einfacher gemacht. Doch dann hatte sie sich in einen ihrer Schüler verliebt. Und ihr Begehren, das sie für tot gehalten hatte, war erwacht, mit einer Macht, die sie überforderte. Es hatte sie beherrscht. Sie hatte an nichts anderes mehr denken können. In einem unbewachten Moment hatte sie sich auf ihn gestürzt. Er hatte versucht, sie zu erwürgen. Das war ihr letzter Versuch gewesen. Doch das Begehren, einmal geweckt, lieà sich nicht mehr unterdrücken. Es quälte sie. Es hielt sie nachts wach. Es war manchmal schlimmer als die Schmerzen unter ihrer Haut. Sex machte das Leben sehr viel komplizierter. Auch wenn man ihn gar nicht hatte. Warum hatte sie nicht mehr Wert auf Sex gelegt, als sie ihn noch haben konnte? Warum hatte sie nicht mehr Zeit damit verbracht?
Sie verfluchte die Jahre, die sie verloren hatte, die Jahre, in denen sie noch schön und stark gewesen war, in denen ihr Körper ihr gehorcht hatte, in denen ihr Haar noch lang und glänzend gewesen war. All die Jahre, in denen die Männer sie noch beachtet, begehrt hatten! Vergangen, verloren, unwiederbringlich. Jetzt war sie alt, sie war krank, sie würde sich nie mehr verlieben, nie wieder fremde Hände auf ihrer Haut spüren, Lippen auf ihren.
Nevada mochte ihren Körper heute mehr als früher. Sie berührte ihn auch lieber. Neben ihrem Bett stand ein groÃer Spiegel, in dem sie sich betrachtete. Du bist schön, dachte sie, während sie sich streichelte und sich dabei zuschaute. Ihre eigenen Hände waren ohnehin die einzigen, die sie auf ihrer Haut ertrug. Du bist schön. Und sie glaubte es sich. Aber es war nicht genug. Es tröstete sie nicht immer. Manchmal machte es sie nur noch trauriger. Noch verzweifelter. Noch einsamer.
Sierra schaute sie an. Sie wartete immer noch auf eine Antwort. Was hatte sie gefragt? Tantra! Nevada seufzte schwer. «Tantra ist ein Konzept, eine nichtdualistische Philosophie», sagte sie. «Etwas ganz anderes als das klassische Yoga von Patanjali, das ich lehre. Im Tantra gibt es kein Innen und AuÃen, keine Unterscheidung in Universelles und Individuelles. Alles ist schon da, alles ist eins, und alles ist gut, so wie es ist.»
«Alles ist gut, so wie es ist? So ein Quatsch! Schön wärâs ja.» Sierra schnaubte. «Nein, gut wirdâs nur, wenn du es selber in die Hand nimmst! Das ist meine Philosophie.»
Und meine, dachte Nevada, meine Philosophie ist: Immer wenn du denkst, es kann nicht mehr
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