Das wahre Leben
schlimmer werden, dann hast du dich getäuscht.
«Hast du schon mal dran gedacht, in die Siedlung zu ziehen? Ich weiÃ, dass du es mal erwähnt hast. Die rollstuhlgängigen Wohnungen, das Ãrztehaus â¦Â»
«Erst muss ich den Rollstuhl ja haben», sagte Nevada trotzig. Demonstrativ schaute sie auf die Uhr. «Wann ist noch mal mein Termin?»
«Du musst dich ja nicht gleich entscheiden. Es eilt überhaupt nicht. Ich wollte nur nicht, dass du es aus der Zeitung erfährst â die Bewilligungen sind eben durchgekommen, die Presse stürzt sich natürlich darauf. Und ich zahl dich aus. Ich hab das Haus schätzen lassen. Du wirst versorgt sein. Es soll dir an nichts fehlen. Aber ich muss einfach mein Ding durchziehen. Das verstehst du doch. Wenn nicht jetzt, wann dann?»
Nevada nickte. Sie war krank, sie hatte keine Arbeit und keine Wohnung mehr. Vorsichtig bewegte sie ihre Schultern, um das Gewicht der Decke abzuschätzen. Sie fühlte sich heute leichter an als sonst. Vielleicht war ihre Philosophie falsch. Vielleicht war der Boden des Abgrunds irgendwann erreicht, vielleicht konnte man irgendwann nicht tiefer fallen. Nevada nahm sich noch ein Croissant, das mit bittersüÃer Mandelmasse gefüllt war. Sie klebte an ihren Zähnen. Sie nahm die Mappe mit den Plänen, blätterte.
«Und was ist das?» Sie zeigte auf ein Zimmer im ersten Stock. «Was ist ein Schmerzzentrum?»
«Oh, das wird die S/M-Zentrale», sagte Sierra leichthin.
Nevada lachte laut heraus. Teigflocken sprühten von ihren Lippen, Kaffeeschaum.
Sierra runzelte die Stirn. «Lach doch nicht so blöd!»
«Doch», japste Nevada. «Siehst du es nicht? Ich hab MS und du machst S/M.»
Sierra runzelte die Stirn. Sie schüttelte den Kopf. Ãffnete den Mund und schloss ihn wieder. «Du bist so doof», brach es schlieÃlich aus ihr heraus. Das hatte sie früher immer gesagt.
Und Nevada antwortete, genau wie damals: «Und du noch viel doofer!»
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2.
«Das ist er.»
Er war kleiner, als sie erwartet hatte, schmaler, schnittiger, fast elegant. Sie war ihrer Mutter dankbar, die darauf bestanden hatte, dass Nevada ihre Krankenversicherung anpasste, bevor sie ihre offizielle Diagnose bekommen hatte. Bis sie vor einem Jahr die Schweiz verlassen hatte, war Martha sogar für die Prämien aufgekommen. Auch um die Invalidenrente hatte sie sich rechtzeitig gekümmert. Das war ihr Spezialgebiet in der Gesundheitsoase für Frauen gewesen. Sie kannte die Behörden und die Bestimmungen, sie hatte alle Möglichkeiten im Kopf, wie man auf jeden beliebigen Fall reagieren konnte. Noch bevor Nevada ihre Diagnose hatte, begann Martha zu arbeiten. Ihre Tochter sollte es so gut haben, wie es unter den Umständen möglich war. Es sollte nicht daran scheitern, dass ein Gesuch nicht rechtzeitig eingegeben worden oder nicht von allen erforderlichen Belegen begleitet war. Nevada wollte keine Invalidenrente beziehen. Wollte nicht offiziell invalid sein. Und sie tat es doch, denn sie war es. In valid: nicht stark. Es mochte Berufe geben, die man auch liegend ausüben konnte, Yogalehrerin gehörte nicht dazu. Jedenfalls nicht so, wie Nevada den Beruf früher ausgeübt hatte. Im Yogastudio hatte sie drei bis fünf Lektionen zu neunzig Minuten pro Tag unterrichtet, an sechs Tagen pro Woche. Heute hatte sie nach drei bis fünf Stunden pro Woche ihre Grenze erreicht. Auch wenn sie die Ãbungen gar nicht mehr selber vormachte. Die geistige Anstrengung, sich in jeden Schüler einzufühlen, in seine je eigenen Bedingungen, kostete sie so viel Energie, dass sie sich nachher hinlegen musste. Und wenn sie einmal lag, mochte sie kaum mehr aufstehen.
Nach den Stunden mit den Mädchen fühlte sie sich anders. Belebt. Doch der Weg vom Bahnhof zur Turnhalle wurde jeden Tag länger. Der Kies unter ihren FüÃen sumpfiger. Die einzige Stunde, auf die sie sich wirklich freute, wurde von der Mühsal des Weges überschattet. Ihr Körper protestierte, er dämpfte ihre Freude, kaum flackerte sie auf. Ihre Mädchen, wie sie sie bei sich schon nannte, holten sie abwechselnd vom Bahnhof ab. Frau Siebenthaler, die Schulpsychologin, hatte entschieden, dass Nevada den Mädchen eine passende Gelegenheit zum Ãben von Hilfsbereitschaft bot. Es waren allerdings immer dieselben, die sich freiwillig meldeten. Dijana, die ihr nicht von der Seite wich und
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