Das wahre Leben
«Pscht!», sagte sie noch. «Seid endlich ruhig!» Nevada öffnete die Augen. Sie hatte das dreimalige Shanti vergessen, Friede. Es musste auch so gehen.
«Das ist nur eine Ãbung», sagte sie. «Keine Strafe. Eine Ãbung wie diese: einatmen, die Arme heben, ausatmen, vorbeugen â¦Â» Bevor jemand protestieren konnte, leitete sie den ersten Sonnengruà ein. Unterdessen waren den meisten Mädchen die Bewegungsabläufe vertraut. Ihre Körper erinnerten sich und führten die nächste Bewegung wie von selber mit dem nächsten Atemzug aus. Ihre Körper brachten so die Stimmen in ihren Köpfen zum Schweigen, die sich immer noch über den erzwungenen Mattentausch empörten. Leise rollte Nevada hinter die Matten. Erst da sah sie, dass sich um Deniz eine Art luftleerer Raum gebildet hatte. Rebecca auf der einen, Dijana auf der anderen Seite waren â unwillkürlich, hoffte Nevada â von ihr abgerückt.
Was war passiert? Was war zwischen Elma und Deniz und Denizâ Bruder Farik passiert? Warum lag Elma im Spital, und warum kam Lana nicht zurück?
«Und ausatmen, Chaturangha, die Liegestütze â einatmen, gleich noch mal hoch ins Brett â ausatmen, Chaturangha bis zum Boden, legt euch auf den Bauch â¦Â»
Sie musste, dachte Nevada, sie musste ihre Werkzeuge überprüfen. Ihre Mittel erweitern. Sie musste besser aufpassen. Doch wie konnte sie. Sie hatte ein Date.
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3.
Nevada saà auf dem Kissen, die Augen geschlossen. Krank oder nicht krank â hier saà sie und atmete aus und ein, aus und ein. Sie streckte ihren Hinterkopf nach oben, ihr SteiÃbein nach unten, rollte die Schultern zurück und fand mit winzig kleinen Anpassungen eine Sitzposition, die sie ohne Anstrengung einhalten konnte. Diese Sitzposition war nicht der Lotossitz. Schon lange nicht mehr. Sie legte ihre Handrücken auf die Oberschenkel, ihre Daumen auf die Nägel der Zeigefinger und streckte die restlichen Finger aus: Jnana mudra. Diese Handhaltung sollte die Bereitschaft signalisieren, Wissen aufzunehmen. Das Verlangen nach Weisheit. Sie schloss die Augen und rollte ihre Zungenspitze nach oben, berührte den Gaumen hinter der oberen Zahnreihe.
Etwas wie ein feiner elektrischer Schlag durchfuhr sie. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sie stellte sich vor, es sei Dantes Zunge, die sanft ihren Mund abtastete, ihren Gaumen kitzelte. Es war, als würde sie sich mit geschlossenem Mund befriedigen. Während ein Teil von ihr versuchte, zur Meditation zurückzukehren, in die vertraute Disziplin.
Das Feuer, dachte sie verzweifelt, das Feuer, das alles verbrennt. Om panchaka namah. Das Feuer half nichts. Es loderte in ihrem Bauch und breitete sich aus.
Nevada hatte ein Date. Ein Date mit Dante. Er hatte darauf bestanden. Er würde sie wieder küssen. Wollen. Sie würde. Wollen. Was, wenn sie nicht mehr wusste, wie man einen Mann anfasst? Was, wenn sie nicht mehr angefasst werden konnte? Würden ihre Nerven überhaupt zulassen, was sie sich wünschte? Was, wenn Dante sie auszog und über ihren Körper erschrak? Vor ihrem nackten Körper davonlief? Siebenmal wollte sie die Verabredung absagen, und jedes Mal legte sie wieder auf.
Sie wollte. Sie wollte nicht. Sie hatte Angst. Sie verfluchte sich. Sie verfluchte ihre neue Diagnose.
Mühselig rollte sie von dem Kissen und streckte sich auf dem harten FuÃboden aus. Sie streifte ihre Hose bis zu den Knöcheln hinab, sie ganz auszuziehen war ihr zu anstrengend. Mit einer Hand schob sie ihr Unterhemd hoch. Sie fuhr sich mit der Hand über den Bauch, suchte ihre Brüste. Nevada hatte noch nicht lange Brüste. Zu früh hatte das harte Balletttraining ihren Körper geformt, zu wenig Nahrung hatte sie ihm über die Jahre gegönnt. Erst die Krankheit hatte ihr Formen gegeben. Ihre Brüste waren auch jetzt nicht groÃ, aber es waren unverkennbar Brüste, weich, rund, etwas knorpelig. Sie fasste sie manchmal selber an unter der Dusche und wunderte sich über sie. Vor allem über ihre Brustwarzen. Sie schienen ein Eigenleben zu führen. Sie spielte mit ihnen, ohne viel dabei zu fühlen. Sie schaute an sich hinunter. Sie sah alt aus, dachte sie. Ãlter, als sie war. Und sogar ihre Unterhose sah praktisch aus, nicht verführerisch. Sie schob sie hinab. In ihrem wild wuchernden Schamhaar waren weiÃe Fäden zu sehen. Sie schob ihre Finger zwischen
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