Das wahre Leben

mal.» Die Bettpfosten waren bereits mit Haken versehen. Seidene Bänder und eiserne Ketten hingen daran.
    Â«Für jeden Geschmack etwas. Und hier …» Sierra bückte sich und zog eine unter der Matratze versteckte Schublade heraus, in der Federn, Pinsel, Bürsten, Holzschläger und kleine Peitschen lagen. «Auf der anderen Seite sind die elektrischen Spielsachen verstaut. Aber heute wollen wir das Handwerk testen. Das ist die Grundlage. Die Hände sind das Wichtigste, das ist meine Meinung. Wichtiger als die Schwänze.»
    Â«Die Schwänze?» Nevada lachte auf. Es war eine nervöse Reaktion. «Was für ein Wort!»
    Sierra zuckte mit den Schultern. «Nenn mir ein anderes.»
    Nevada wusste keins. Sie hatte immer Sanskrit für die Geschlechtsorgane benutzt, Lingam und Yoni, heute fand sie das affektiert. Selbst in der Zeit, in der sie sich für sexuell aktiv, befreit und experimentierfreudig gehalten hatte, hatte sie dem … Ding nie besondere Beachtung geschenkt. Sie hatte es eher in Kauf genommen. Erst wenn es tief in ihr versorgt war, ergab es einen Sinn.
    Es gab keine Worte.
    Sie mochte das Wort Vagina, aber sie wusste nicht, wie man es richtig betonte, auf der ersten oder auf der zweiten Silbe. Außerdem war es anatomisch nicht korrekt, die Vagina befand sich im Innern. Was sie meinte, hieß Vulva. Und dieses Wort gefiel ihr gar nicht. Vulva klang vulgär. Es klang nach fleischfressender Pflanze.
    Â«Langlang?», neckte Sierra sie. «Dingdong?»
    Â«Du bist doof! Was soll ich überhaupt tun?»
    Sierra schaltete ihr iPad ein, das sie immer mit sich herumtrug. «Zieh dich schon mal aus», sagte sie zu Nevada, während sie irgendetwas auf den Bildschirm tippte. «Das geht bei dir ja nicht so schnell.»
    Â«Sierra … ich dachte, ich soll dir bei den Einstellungsgesprächen helfen?»
    Â«Das tust du auch. Ich würde es nur nicht Gespräche nennen. Meinst du, ich wolle jeden Einzelnen selber testen? Und dann seine Chefin sein? Hier», sie zeigte ihr den Bildschirm. «Ich hab dir eine ganz einfache Bewertungstabelle eingerichtet. Du musst nur die entsprechenden Felder anklicken. Die Männer tragen bunte Bändel um die Handgelenke … du merkst dir einfach die Farbe.»
    Nevada nahm das Tablet in die Hand. «Sauberkeit», las sie. «Geruch. Hautbeschaffenheit. Konsistenz. Festigkeit. Intuition. Benehmen.»
    Neben jedem Begriff konnte sie eine der folgenden Bewertungen anklicken: «Haut mich um. Haut mich nicht um. Lernfähig. Unbrauchbar.»
    Â«Was muss ich tun?»
    Â«Du? Nichts. Was du willst. Darum geht es doch: Die Frauen, die zu mir kommen, wollen sich ausleben, wollen ihre geheimsten Wünsche erfüllt haben, ohne dass sie sie aussprechen müssen. Das müssen die Männer können, die für mich arbeiten, sie müssen das spüren, umsetzen. Und sie müssen ihre Körper einsetzen wie Instrumente, verstehst du, nicht wie Werkzeuge.»
    Â«Und sie müssen jede Frau begehren können?», sagte Nevada. «Auch eine wie mich?»
    Â«Eine wie dich?» Sierra beugte sich vor und strich Nevada über die kurzen Haare. «Schwester, wer würde dich nicht begehren? Weißt du nicht, wie schön du bist?»
    Â«Ich bin ein Krüppel», sagte Nevada und rollte aus dem Zimmer. In der Lounge warteten drei weitere Frauen, die wohl von Sierra zur Testrunde eingeladen worden waren. Eine war sehr dick, eine andere hatte weißes Haar, die dritte war so mager, dass sie körperlos wirkte. Normale Frauen, dachte Nevada, normale Frauen würden diesen Ort wohl nicht aufsuchen. Oder war die Testrunde dafür gedacht, die Kandidaten auf Extremsituationen vorzubereiten, zu sehen, wie sie damit umgehen würden?
    Plötzlich verstand sie, was Sierra hier tat. Zum ersten Mal verstand sie die Anziehungskraft, die käuflicher Sex ausüben konnte. Es war … einfach. Man musste nur die Augen schließen. Es konnte einem nichts dabei passieren.
    Die Liebe hingegen war gefährlich. Sie tat weh.
    Â 
4.
    Â«So sieht man sich wieder», sagte Nevada und wurde rot. Etwas Dümmeres hätte ihr nicht einfallen können, wenn sie eine halbe Stunde darüber nachgedacht hätte. Schließlich hatten sie sich verabredet. Sie war etwas zu früh gekommen, sie hatte sich das Restaurant vorher anschauen wollen. Gab es Stufen und Schwellen, passte ihr Rollstuhl durch die