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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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wohnen. Wir haben genug Platz.»
    Kurz vor der Turnhalle fing Stefanie sie ab. «Nevada, kann ich kurz mit dir sprechen?»
    Â«Klar. Was ist los?» Noch hatte sie Stefanies Rolle in der Gruppe nicht verstanden. Sie schien sich als Vermittlerin zu sehen. Von Ted wusste Nevada, dass Stefanie oft auf ihre kleinen Schwestern aufpassen musste. Vielleicht war sie es einfach gewohnt, für alle zu sorgen, sich um alles zu kümmern. Vielleicht, dachte Nevada, war das ihre Art, sich ihren Platz in der Gemeinschaft zu verdienen. In ihrer Familie und in der Yogagruppe. Nevada versuchte, ihre Ohren abwechselnd auf die Schultern zu legen, um ihren Nacken zu dehnen und die Gedanken aus ihrem Kopf zu schütteln. Wollte sie sich nicht auf das konzentrieren, was in den Stunden geschah? Hatte sie sich nicht vorgenommen, die Mädchen über ihren Atem wahrzunehmen, ihre Bewegungen? Damit war sie allerdings nicht sehr weit gekommen.
    Stefanie kniete sich vor dem Rollstuhl nieder und schaute ernst zu Nevada auf. «Deniz ist wieder da», sagte sie.
    Â«Schön, das freut mich.»
    Â«Wie sollen wir damit umgehen?»
    Â«Wir?»
    Â«Ich dachte, wir könnten die Matten etwas anders auslegen, im Kreis oder im Halbkreis, damit ein größeres Gemeinschaftsgefühl entsteht, und um die Fronten aufzubrechen. Vielleicht könntest du am Anfang etwas dazu sagen?»
    Â«Das ist eine gute Idee», sagte Nevada. «Aber überlass das ruhig mir.»
    Bevor Stefanie darauf antworten konnte, hatte Dijana den Rollstuhl wieder übernommen und in die Turnhalle geschoben. Als Nevada die in einem weiten Oval ausgelegten Matten sah, musste sie zugeben, dass Stefanies Idee gut war. Sie hätte selber darauf kommen können. Wenn nicht jede ihrer Zellen mit ihrer neuen Diagnose beschäftigt wäre.
    Die Krankheit hatte Nevada zu einer besseren Lehrerin gemacht. Die Liebe hingegen lenkte sie ab. Von ihren Aufgaben. Ihren Versprechen. Von ihrer Bestimmung. War die Liebe nicht Bestimmung genug?
    Â«Genug!» Nevada nahm eine Schachtel Streichhölzer aus ihrer Tasche und reichte sie Dijana. «Willst du die Kerzen anzünden?»
    Das Mädchen tat es mit größter Sorgfalt. Zusammen verbeugten sie sich vor dem Altar. Die anderen Mädchen kamen herein.
    Â«Was soll der Scheiß?»
    Â«Das ist nicht mein Platz!»
    Â«Verzieh dich, bitch!»
    Patanjali hilf, dachte Nevada. Offenbar war es doch keine so gute Idee gewesen, die exakt abgesteckten Territorien neu zu verteilen. Aber jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Sie erinnerte sich an ihren indischen Lehrer, der seine Schüler angewiesen hatte, mit einem Fuß auf der eigenen und mit dem anderen auf der Matte des Nachbarn zu stehen. Nevada hatte früher oft an dieses Experiment gedacht, wenn sie die geübten Schülerinnen in ihrem Yogastudio beobachtete, die ihre Plätze mit Unmengen von Material abgrenzten, mit zusammengerollten Matten und Kissen und Decken, mit Taschen und Wasserflaschen und Yogablöcken. Das grundmenschliche Bedürfnis danach, ein Revier zu erobern, zu besetzen und zu verteidigen, musste bei diesen Mädchen noch ausgeprägter sein. «Von jetzt an werdet ihr jeden Tag einen anderen Platz im Raum einnehmen», sagte Nevada. «Jeden Tag auf einer anderen Matte, neben einem anderen Mädchen üben …»
    Â«Ich steh nicht neben der, Mann, da kannst du lange warten!»
    Â«Niemand will dich, Schlampe!»
    Nevada hob beide Hände, als wollte sie die Worte abwehren, die gegen ihre Handflächen prallten. Die Mädchen beachteten sie nicht. Nevada legte die Handflächen zusammen, an denen die Beschimpfungen noch klebten, und hielt sie vor ihre Brust. Sie schloss die Augen. Bevor sie wusste, was sie jetzt tun sollte, begann sie zu singen. «Loka samasta sukhino bhavantu … loka samasta sukhino bhavantu …» Mögen alle Wesen überall und immer glücklich sein und frei.
    Wenn Frau Siebenthaler jetzt hereinkäme, wenn Frau Rothenbühler sie jetzt hören könnte, würden sie all ihre Vorurteile bestätigt sehen. Nevada wusste selber nicht, was sie hier tat. Sie wusste nur, was ihr zur Verfügung stand. Sie konnte nur ihre eigenen Werkzeuge einsetzen. Ihren Atem, ihre Gesten, ihre Gebete. Genau wie die Mädchen die Mittel nutzten, die ihnen zur Verfügung standen.
    Nach und nach verstummten sie, zuletzt erklang noch ein paarmal die Stimme von Stefanie.

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