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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Sie legte eine Hand auf die von Elma, die spürbar zuckte. Aber Elma schob weiter, die Finger verkrampft um den Griff des Rollstuhls.
    Â«Und was ist mit dir?» Nevada drehte sich um und schaute zu Elma hoch. «Hast du dich gut erholt von deinen Verletzungen?»
    Â«Mir geht es gut. Machen Sie sich keinen Stress», sagte Elma. Ihr Gesicht war verschlossen, ihre Schultern hart. Nevada hatte das unbestimmte Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben.
    Nach weniger als einer Woche war Elma wieder zur Yogastunde gekommen. Einen Arm in der Schlinge, das Gesicht geschwollen und verfärbt, hatte sie stoisch alle Übungen mitgemacht, die sie konnte. Deniz hingegen war äußerlich unversehrt. Noch sah man ihr die Schwangerschaft nicht an. Nevada spürte eine neue Weichheit unter ihrer Haut, wenn sie die Hand auf ihren Oberschenkel legte, um sie tiefer in eine Stellung zu drücken. Sie sah die neue Festigkeit in ihrem Gesicht.
    Sie sagte nichts. Sie fragte nicht.
    Für das Reden waren andere zuständig. Auch an den wöchentlichen Teamsitzungen schwieg sie meist. Das, was sie über die Mädchen zu berichten hatte, interessierte niemanden. Sie lernte sie über ihre Körper kennen, über ihren Atem. Sie stellte fest, dass Rebecca noch dünner geworden war, obwohl das gar nicht möglich schien. Sie spürte, wie Elmas Schultern sich verhärteten, wenn die Blicke der anderen sie trafen. Sie sah, wie diese Blicke an Elmas Panzer abprallten. Nur Deniz durchdrang ihn. Ein verächtliches Augenrollen, eine gezischte Beleidigung von Deniz trafen Elmas Uddhyana Bandha wie ein Faustschlag. Nevada konnte sehen, wie sie zusammenzuckte, wie sie sich krümmte. Sie ließ die Mädchen die Blasebalgatmung üben, damit sie sich an diese kraftvollen Schläge ins Sonnengeflecht gewöhnten, die ihnen das Leben verpasste.
    Â«Mit dieser Atmung putzt ihr eure Köpfe von innen», erklärte sie. «Lauter! Fester! Schneller!» Nach zwei Minuten war die Luft wieder rein. Aber das konnte sie Frau Rothenbühler und Frau Siebenthaler nicht beschreiben. Ebenso wenig das zögernde Nachgeben in der Entspannung am Ende, in der ein Mädchen nach dem anderen die Augen schloss, wenn auch nur für einen Moment.
    Nevada nahm an den Sitzungen teil, um zuzuhören. So wusste sie jetzt, dass Deniz’ Bruder Elma verprügelt hatte. Und dass Deniz behauptet hatte, Elma sei auf sie losgegangen, ihr Bruder habe sie nur verteidigt. Ein Gespräch mit allen Beteiligten und deren Eltern war bisher nicht zustande gekommen. Deniz’ Bruder war nach Hause geschickt worden, in das Dorf seiner Eltern. Ob für die Ferien oder für immer, wusste niemand.
    Â«Ist er der Vater des Kindes?», hatte Nevada gefragt und einmal mehr einen Vortrag über Familienstrukturen in der islamischen Gesellschaft ausgelöst. Was nicht sein darf, das ist auch nicht. Das galt überall, auch hier, in dieser Siedlung, an diesem Sitzungstisch. Doch der Körper konnte nichts vertuschen. Oder nicht für lange.
    Die Liebe kümmerte sich nicht um kulturelle Prägungen und Vorschriften. Nicht um Herkunft und Sprache und Religion. Nicht um Alter und Bildung und Schicht. Der Schmerz auch nicht.
    Es gab nur die Verschonten und die Versehrten.
    Nevada war eine mehrfach Versehrte. Aber sie weigerte sich, dieses Urteil hinzunehmen, zu akzeptieren, dass diese Versehrtheit ihre Persönlichkeit definierte. Nichts empfand sie unangenehmer als diese Reduktion auf ihre Krankheit.
    Und genauso entschieden weigerte sich Nevada, das Urteil der Schulpflegerin und der Sozialarbeiterin über ihre Mädchen hinzunehmen. Dieses Urteil basierte darauf, dass die Herkunft eines Menschen ihn abschließend forme. Dass vergangene Ereignisse unabänderlich die Gegenwart bestimmen würden, dass ein einziger Moment im Leben die Weichen stelle für die ganze weitere Fahrt.
    Nevada glaubte lieber daran, dass sie sich jeden Tag neu erfand. Dass sie sich mit jedem Atemzug neues Leben einhauchte. Dass in jedem Moment alles möglich war. Daran hielt sie sich fest. Manchmal aus reinem Trotz. Und manchmal fast gegen ihren eigenen Willen.
    Â«Nevada!» Dijana kam ihnen entgegengelaufen, sie trug eine weite Pluderhose und eine Weste, die mit Metallplättchen bestickt war. Sie sah aus wie Sindbad, der Seefahrer. Nevada dachte, dass dieser Aufzug bestimmt für sie gedacht war, eine Art Anverwandlung an das alte Indien. In

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