Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug
erwidere, aber ich kann es nicht. Könnte es auch nicht, wenn sie unverletzt wäre, denn sie trägt eine noch tiefere Verstümmelung in sich als die in ihrem Gesicht.«
»Kann sie wirklich nicht geheilt werden? Hier ist doch soviel Kraft versammelt.«
»Die heilende Kraft wirkt durch den Geist, Peter«, erwiderte Seidenhand traurig, »wie alle unsere Kräfte. Wenn eine alte Wunde längst verheilt ist, hat sich der Geist damit abgefunden und hilft mir nicht mehr, sie zu bekämpfen. Ich bin kein Nekromant, der totes Gewebe zu einem scheinbaren Leben erwecken kann.«
»Also, mein Junge«, sagte Himaggery, »ich werde dich in dieser Angelegenheit entscheiden lassen. Das ist bei uns in der Leuchtenden Domäne manchmal üblich – ein Bauernurteil in dieser oder jener Angelegenheit …«
»Aber«, wandte ich ein, »die Bauern kennen doch die Regeln überhaupt nicht.«
»Eben. Du hast es erfaßt. Da du also die Regeln nicht kennst, wie würdest du in diesem Fall entscheiden? Ich glaube, Seidenhand sollte von hier fortgehen. Ihr Zusammensein mit Dazzle verschlimmert die Dinge nur. Was meinst du?«
Da es keine Regeln gab, mußte ich meinen Verstand einsetzen. Obwohl mich Chance in dieser Hinsicht nie für übermäßig gut ausgestattet gehalten hatte, war ich manchmal darüber anderer Meinung gewesen, und versuchte nun mein Bestes. Ich dachte an den jungen Drachen und den Eisdrachen, die aufgrund von Dazzles Machenschaften gestorben waren. Ich dachte an Mandor, wie ich ihn zuletzt gesehen hatte, von tiefem Neid erfüllt und bereit, mich deshalb zu vernichten. Ich dachte an Seidenhand und ihren Schmerz darüber, daß sie nicht mehr heilen konnte …
»Sie sollte fortgehen«, sagte ich. »Wenn Dazzle genauso ist wie jemand, den ich gut kannte, wird sie nicht eher Ruhe geben, bis sie Euch vernichtet hat, Seidenhand. Wenn Ihr weggeht, wird ein Teil ihres Ärgers verschwinden.«
»So ist es!« Himaggery strahlte mich an. »Seidenhand muß eine Botschaft für mich überbringen, und sie muß fort. Du benötigst Gesellschaft während der Reise, genau wie sie, und du reist zum selben Ort wie sie. Schau, wie gut sich das alles trifft.« Er wandte sich an Seidenhand. »Ich möchte, daß du mit dem Jungen zur Hohen Domäne bei Evenor gehst. Er ist noch nicht ganz geheilt, deshalb kannst du ihn vielleicht auf dem Weg von seinen Narben befreien.«
»Warum ich?« fragte sie und wischte sich die Tränen ab.
»Weil du dort willkommen sein wirst. Heiler sind immer willkommen. Wenn ich einen Seher oder einen Dämon schicke, würde man denken, ich hätte einen Spion geschickt. Weil du zu einem guten Freund von mir gehen sollst, der deine Hilfe und Fürsorge braucht. Vielleicht kannst du ihn mit dir zurückbringen. Der Hochkönig wird ihn nicht freiwillig gehen lassen, also mußt du deine ganze List und Tücke anwenden, ohne aber unehrlich zu werden – was dir nicht schwerfallen wird, denn du bist grundehrlich und könntest an Betrug nicht einmal denken. Sind das Gründe genug?«
Sie weinte, und Himaggery tröstete sie. Ich hörte ihnen zu, und die Stunden verstrichen, während sie über andere Dinge sprachen. Sie redeten über Heteroletisches (ich schrieb es mir auf) und ein Tier, das in der Wildnis von Bleer szazonische Angriffe unternahm (das schrieb ich mir ebenfalls auf). Sie unterhielten sich über große Spieler der Vergangenheit: Dodir von den Sieben Händen, den größten Tragamor, der je gelebt hatte, und über Mavin Vielgestalt. Der Name kam mir vertraut vor, aber ich wußte nicht, wo ich ihn schon einmal gehört hatte. Und sie sprachen ausgiebig über die Person, zu der Seidenhand geschickt werden sollte, einen alten Mann, einen Spielmeister, aber noch mehr als das oder noch etwas anderes. Sie sprachen lange, und ich schlief ein. Als ich erwachte, saß Himaggery grübelnd am Kamin, und Seidenhand war gegangen.
Mich verlangte danach, ihm zu danken. Die Situation forderte etwas von mir, mehr als bloße Worte. Ich zog den Beutel aus meinem Gürtel und drückte ihn in seine Hand, wobei ich sagte: »Ich besitze nichts von Wert, was ich Euch geben könnte, Herr, abgesehen vielleicht von diesen Sachen hier, die ich gefunden habe. Wenn sie Euch gefallen, würdet Ihr sie als meinen Dank für Eure Güte behalten wollen?« Als er den Beutel öffnete, floh die Farbe aus seinem Gesicht, und er nahm eine der Figuren in die Hand, als wäre sie aus Feuer. Nachdem er mich gefragt hatte, woher ich sie hätte, und ich ihm geantwortet hatte,
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