Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug
beim Sprechen an mich herangetreten, um mir die Hand auf die Schulter zu legen. Ich spürte ihr Gewicht, roch den Duft, gemischt aus Leder und Kräutern, der in Himaggerys Kleidung hing, und folgte seinem Blick zum Fenster, wo Dazzle einem exotischen Vogel oder einer edlen Katze gleich posierte. Ich sah sie an, schaute noch einmal hin und drehte mich entsetzt zur Seite. Eine Augenhöhle gähnte leer. Die ganze Seite der Nase wirkte wie weggefressen. Knochensplitter und Zähne ragten aus dem vernarbten Kiefer, als wäre die Hälfte des Gesichts von einem wilden Tier zerfleischt worden. Ich würgte. Himaggery zog die Hand weg, und das schreckliche Bild verschwand sofort. Ich griff nach ihm, um mich festzuhalten, und die Vision kehrte zurück. Himaggery, der das Entsetzen in meinem Gesicht sah, beugte sich über mich und flüsterte mir zu: »Siehst du es?« Ich nickte, unfähig zu sprechen, worauf Himaggery sich von mir löste.
»Schweig«, flüsterte er. »Sei ganz still.« Ihm waren die neugierigen Blicke der anderen aufgefallen. »Erzähl ihnen einfach, daß ich dir verboten habe, dich als Nekromant aufzuspielen.« Daraufhin ließ er mich zitternd stehen. Ich schaffte es nicht, die Halle rasch genug zu verlassen. Sogar in meinem Zimmer übergab ich mich noch weiter und fühlte mich sterbenselend. Als ich mich wieder etwas gefaßt hatte, trat ich auf den kleinen Balkon hinaus, kauerte mich dort gegen die Mauer und versuchte, an nichts zu denken. Ich beobachtete, wie der Pfandleiher unten im Hof mit einigen Männern sprach. Gleich darauf sattelten alle auf und ritten fort, das Seeufer Richtung Süden entlang. In diesem Augenblick dachte ich mir nichts dabei. Später wunderte ich mich. Warum ausgerechnet nach Süden? Das Stürmische Meer und das Schiff des Pfandleihers lagen im Norden. Ich hatte nicht lange Gelegenheit zum Grübeln, denn Seidenhand kam, um mich zu Himaggery zu bringen.
Wir fanden ihn umgekleidet in seinen eigenen Räumen, das Gewand des Zauberers hatte er gegen ein lockeres Hemd und eine Hose ausgetauscht, die jedermann hätte tragen können. Er betrachtete einen Obstbaum im eingezäunten Garten.
»Gewöhnlich wachsen sie nicht so weit im Norden«, sagte er. »Außer wenn sie ewigen Sommer finden, wie hier bei uns zwischen den Geysiren. Wir ernten Obst, wenn andere schon lange keines mehr haben, versammeln Kräfte, wenn sie anderen längst ausgegangen sind. Wenn wir unseren Weg ins Zentrum des Lebens fänden – oder ins Zentrum des Spiels oder aus ihm hinaus –, könnte ein mächtiges Volk aus dem Ort hier erwachsen.«
Ich glaube, ich zuckte zusammen, als ich diese ketzerischen Worte vernahm, und war mir nicht sicher, ob ich sie überhaupt hören wollte, aber Himaggery tat so, als bemerke er es nicht, grinste mich über seinen Bart hinweg an, und seine blauen Augen funkelten vor Humor und Verständnis.
»Und du, Heilerin«, fuhr er fort, »bist du jetzt bereit, einzusehen, daß deine Gegenwart Dazzle nicht hilft, sondern ihr Benehmen noch verschlimmert?«
»Herr, es ist wohl wahr, daß ich ihr nicht helfen kann.«
»Weißt du, daß dieser Bursche hier sie erblickt hat?« Seidenhand schaute bestürzt in mein Gesicht, dessen Ausdruck sie von der Wahrheit überzeugte.
»Aber wie? Niemand kann das. Niemand außer mir und Euch, Herr.«
»Er kann’s«, erwiderte Himaggery, »obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wieso. Nun, das Leben ist voller Geheimnisse, aber es wäre besser für dich, Junge, wenn du dieses hier rasch vergißt. Habe ich richtig bemerkt, daß du durch meine Augen gesehen hast? Dachte ich’s mir doch. Nun, vielleicht manifestiert sich gerade ein Talent in dir, und es gibt keinen Grund, sich weiter Gedanken zu machen.«
»Wie hat sie … wie ist sie …« Ich brachte die Frage nicht über die Lippen.
»Wieso sie so scheußlich verstümmelt ist? Warum ist das nicht aller Welt bekannt? Warum nicht? Wieder eines dieser Geheimnisse, von denen ich sprach. Aber ich glaube, Seidenhand wird es mir nicht verübeln, wenn ich es dir erzähle.« Er schaute sie fragend an, und sie nickte, die Augen auf die gerungenen Hände gerichtet. Er klopfte ihr auf die Schulter und fing an, mir die Geschichte zu erzählen.
»Finler, der Seher, hatte mit seiner geliebten Frau, einem Tragamor aus dem Osten, zwei Kinder, Seidenhand und ihren Bruder Borold, der zwei Jahre nach ihr geboren wurde. Die Mutter starb, als die beiden noch klein waren, und Finler heiratete eine andere Frau, einen Tragamor aus
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