Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug
hätte dies auch getan, wenn ich es zu hindern oder einzudämmen versucht hätte. Seidenhand schnappte erschrocken nach Luft, denn die Figur leuchtete so stark zwischen meinen Fingern, daß das Fleisch meiner Hand durchsichtig wirkte. Weit weg ertönten Stimmen, Hundegebell. Ich hörte es nur mit halbem Ohr, als ich die Figur in den Beutel stopfte. Sie glühte nicht länger.
Die Verfolger kehrten zurück. Sie verharrten einen Moment am Eingang der Grabkammer, bevor sie hereinkamen. Ich vernahm Hulds Stimme, der ihnen aus einiger Entfernung zurief: »Durchsucht jeden Raum. Markiert jeden Gang zum Zeichen, daß ihr ihn bereits durchsucht habt …« Sie konnten uns einfach nicht übersehen, wenn sie hereinstürmten, diese gehorsamen Gestalten, deren lange Schatten im Licht der Fackeln vor ihnen hertanzten. Irgend etwas in mir seufzte tief auf.
Sieben Grabmäler befanden sich zwischen uns und dem Suchtrupp, Marmorsärge mit goldenen Kronen obenauf. Hier ruhten einige der früheren Herrscher von Bannerwell, Prinzen oder Könige längst vergangener Tage. Ich seufzte erneut. Das Muster Dorns in mir begann die Zeit zu LESEN, zurück und immer weiter zurück, maß sie aus dem Stein, unter dem die toten Könige lagen, ging zu deren Leben zurück, nahm ihren Staub, ihre Gebeine, die verrotteten Fetzen, die einst ihre Kleidung gewesen waren, fügte alles wieder zusammen, als sollte es lebendig werden, sich erheben, aus der Grabkammer in die Luft emporschweben, ein Schatten, ein Geist, ein totenbleicher König, der aus dunklen Augen auf diese Eindringlinge herabspähte und der mit einer Stimme sprach, in der die verflossenen Jahrhunderte schwangen wie das Weinen verirrter Kinder in einem öden Land. »Wer nähert sich, wer nähert sich mir …«
Seidenhand schlug neben mir die Hände vors Gesicht, einen stummen Schrei erstickend. Die Verfolger vor mir hielten mit weit aufgerissenen Augen jäh inne, die Münder in sprachloser Angst verzerrt. Die Fustigare krochen in sich zusammen, und der Geist rief weiter:
»Wer nähert sich mir, wer nähert sich …« Während dessen erhob sich an seiner Seite ein weiterer, dann noch einer und noch einer und immer mehr von ihnen.
Die Verfolger flohen, und die Geister wandten die Köpfe dem Platz zu, wo wir uns versteckt hatten. Erneut hörte ich den Seufzer in mir, und Dorn ließ sie wieder zur Ruhe kommen. Jetzt begriff ich, warum Dazzle die Drohung ihres Todes so gefürchtet hatte. Diese Toten hier hatten nichts mit mir zu schaffen, und trotzdem hatte ich sie gefürchtet, denn sie hatten einen Hunger und Durst ausgeströmt, den mein Leben nicht hätte stillen können. Wer diese Toten erweckte, erweckte Grauenhaftes. Und doch wußte ich, selbst als ich dies dachte, daß Dorn sie dorthin schicken konnte, wo sie keinen Schaden anrichteten, oder sie erwecken konnte, wie er es eben getan hatte.
Blindlings stammelnd versuchte ich Seidenhand zu beruhigen. »Himaggery sagte mir, ich solle auf die Spielfiguren gut aufpassen. Sie bei mir behalten. Wie recht er hatte! Ich wünschte, ich hätte sie wieder tief in der Erde vergraben.«
»Wir leben«, flüsterte Seidenhand, zuversichtlich und angstvoll zugleich. »Ich ziehe es vor zu leben, sogar wie jetzt vor Angst zu schwitzen! Nachdem ich den Tod gesehen habe, ziehe ich es vor zu leben.«
»Ich kann sie noch einmal erwecken, wenn es erforderlich ist …«
»Nicht jetzt«, bat sie. »Ich bin so müde. Ich habe mich so lange Zeit gefürchtet. Nicht jetzt, bitte.«
Wir entzündeten die Fackel wieder und folgten den Fußspuren derer, die geflohen waren, aber die Hoffnung, auf diesem Weg zu entkommen, erwies sich als trügerisch. Hunderte von Fackeln erleuchteten den großen Felsensaal mit den Grabmälern, und in jeder Ecke waren Wächter aufgestellt. Es gelang mir, Mandor in dem Raum zu LESEN, der vor Wut schäumte, ebenso Dazzles sich windende Gedanken, die einer Grube voller Schlangen glichen, die sich in blutschänderischem Fieber ineinander verknäulten. Ein verräterisches Prickeln am Rande meiner Gedanken warf mich hinter einen Mittelpfeiler zurück, der das Kreuzgewölbe stützte. Ich zog Seidenhand an mich. »Wir können nicht hierbleiben. Huld sucht uns. Wir brauchen Stein zwischen uns und ihm …«
Meine Worte wurden von ohrenbetäubendem Lärm unterbrochen, von Trommelwirbel, Rädergerumpel und einem donnernden Geräusch auf der Brücke. Trompeten schallten. Seidenhand sagte: »Aha, jemand ist gekommen, Mandor zu einem Großen Spiel
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