Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug
Füßen erzitterte bei diesen Worten, und ich glaubte es stöhnen zu hören. »Habt Ihr Appetit auf einen Kohlkopf?« fragte die Frau.
»Ich wäre für etwas zu essen sehr dankbar, Madam«, sagte Seidenhand. »Was immer es ist. Ich bin sehr hungrig.« Während sie sprach, füllte sich mein Mund mit Speichel, obwohl ich Kohl verabscheute, gleichgültig, ob gekocht oder roh. Die Frau zog einen Kohlkopf neben sich hervor und bot ihn uns an. Seidenhand zupfte eine Handvoll Blätter ab.
»Es ist besser als nichts«, sagte die Frau. »Obwohl ich ihn in diesem Zustand nicht mag.« Sie betrachtete das Gemüse eingehend, während sie es in ihrer Hand drehte. Es zerfaserte vor meinen Augen, wurde zu einem lichten Flaum, der sich in ein gebratenes Huhn verwandelte. Das aufgehäufte Material stöhnte erneut und setzte sich auf. Lange gestrickte Glieder schoben sich heraus und stützten es beim Aufstehen. Es schwankte, wo es stand, formlos, entfernt menschenähnlich und ohne viel Substanz. An manchen Stellen konnte ich hindurchsehen. Ein ungeduldiger Seufzer lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau. Sie hatte Seidenhand das Huhn gegeben. »Probiert es und sagt mir, ob es richtig schmeckt.«
Seidenhand brach ein Hühnerbein ab, biß hinein, wischte sich den Mund an ihrem Ärmel sauber und nickte. »Es schmeckt … nicht mehr so stark nach Kohl.«
»Aha. Ein Fortschritt. Als Heilerin könntet Ihr es besser, wenn dieser junge Müßiggänger an Eurer Seite Euch dabei hülfe.«
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Seidenhand und erinnerte sich endlich daran, mir auch etwas von dem Huhn anzubieten. »Was meint Ihr damit, daß ich es besser könnte?«
»Habt Ihr jemals ein Huhn geheilt?« fragte die Frau.
»Noch nie.«
»Nun, dann könntet Ihr es vielleicht auch nicht besser als ich. Wenn Ihr jemals ein Huhn geheilt hättet, wüßtet Ihr, wie sein Fleisch zusammengesetzt ist. Und dieser Bursche da könnte Euch LESEN, während Ihr darüber nachdenkt, und dann könnte er den Kohlkopf weitaus besser verwandeln, als ich es tat.«
»Entschuldigung, Madam«, sagte ich. »Ich besitze ein solches Talent nicht.«
»Unsinn. Du hast alle Talente, die es gibt, von Dorn bis Didir oder von Didir bis Dorn, wie man’s auch betrachtet. Du besitzt die Spielfiguren von Barish. Ich weiß es. Selbst wenn ich nicht gespürt hätte, wie Dorns Geist sich wie fernes Donnergrollen durch diese unterirdischen Gänge bewegte, hätte ich es gewußt. Wurde es nicht VORHERGESEHEN? Wurde es nicht prophezeit? Warum wären ich oder du sonst hier?«
»Die Spielfiguren von Barish?« Jetzt war ich mir sicher, daß ich noch schlief, oben auf dem kleinen Vorsprung in der Felsenwand, und träumte. »Ich weiß nicht, was Ihr …«
»Diese da!« Sie angelte mit der Stricknadel nach mir, fing die Schleife des Beutels und schüttelte die Spielfiguren darin. »Diese da. Dorn hast du schon ins Dasein gerufen. Bald wirst du die anderen wecken müssen, wenn nicht früher, dann später. Bei den Sieben Höllen, du fürchtest dich doch nicht etwa davor, oder?«
»Fürchten? Vor denen? Denen … was?«
»Kraftlos«, bemerkte sie bissig und musterte mich von Kopf bis Fuß, als könne sie nicht glauben, was sie sah. »Saft- und kraftlos. Trocken wie Dörrobst. Bei den Sieben Höllen, Junge, du hast die Könige von Bannerwell aus dem Grab erweckt! Wie hast du das wohl geschafft? Indem du sie mit deinem kleinen Messer aus einem Stückchen Holz herausgeschnippelt hast? Oder herbeigepfiffen? Oder aus Tee zusammengebraut? Wie hast du das fertiggebracht, gefräßiger Abkömmling einer namenlosen Kreatur? Mhm? Antworte mir!«
Langsam wurde ich ärgerlich. Je wacher ich wurde und je weniger hungrig ich mich fühlte (denn das Huhn hatte mir den Magen gefüllt, obwohl es nach Kohl schmeckte), desto zorniger wurde ich. Abgelenkt wurde ich allerdings von dem Morfus, das in diesem Augenblick beschloß, das zu tun, wozu es wohl erschaffen worden war. Schrill keuchend taumelte es zur Höhlenwand und kletterte hinauf. Es schaukelte und flatterte wie Wäsche auf einer schlaffen Leine, schob sich wabernd und klatschend aufwärts.
»Auf diese Weise kommt es nie nach oben«, bemerkte die Frau, als sie Nadeln und Wolle wieder aufnahm, um einen weiteren Berg verwobenen Wollgespinstes auf ihrem Schoß anzuhäufen. »Du hast mir noch nicht geantwortet«, sagte sie. »Wie hast du sie erweckt, Junge? Auf welche Weise?«
»Indem ich das Muster benutzte, das ich in einer der Spielfiguren fand«,
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