Das Wahre Spiel 02 - Der Nekromant
aufschlußreich.«
»Nein, aber es trifft den Kern, werter Herr. Es ist der Ungeborene, den Ihr durch die Straßen heulen hört. Er hat schon manche in den Wahnsinn oder zur Verzweiflung getrieben. Meine eigene Mutter wollte sich ertränken, weil sie das fortwährende Grauen nicht mehr ertragen konnte. Nachts können wir wegen des Geheules nicht schlafen, und tagsüber dürfen wir es nicht, weil wir sonst verhungern würden. Meiner Ansicht nach wäre es besser, zu verhungern. Mein Vater meint, er würde lieber verhungern als mich vergewaltigt wissen, aber meine Mutter meint, Quatsch, das Mädchen muß vergewaltigt werden, so will es das Gesetz.«
Das Glas fiel mir aus der Hand und ich hörte sein dumpfes Echo unter dem Bett, wo es klappernd hin und herrollte. »Vergewaltigt! Von wem?«
»Von Euch, Herr. Oder vielmehr – von niemandem.«
Ich setzte mich auf die Bettkante und angelte mit dem Fuß nach dem Glas. »Sylbie, schenk noch mal nach. Dann setz dich neben mich und erklär mir, was du eben gesagt hast. Ich bin noch ziemlich jung, und ich habe nichts von dem begriffen, was du erzählst.«
»O werter Herr«, sagte sie, ließ sich auf die Knie nieder und zog das Glas hervor. »Ihr begreift wirklich schwer. Ich habe doch schon alles erklärt. Aber ich will es noch einmal probieren.
Beim letzten Festival, also vor zwei Jahren, kam ein Nekromant nach Betand. Ein alter Mann, der zur Belustigung der Menge kleine Gespenster erweckte (jemand sagte, es sei ihm verboten gewesen, dies während eines Festivals zu tun, und das wäre auch der Grund für unsere Heimsuchung). Die Gespenster tanzten und sangen wie kleine flüchtige Schatten. Naja, eines Nachts trank er im Schmutzigen Gürtel, einer Schenke, die den Ruf auch verdient, den sie hat, wie meine Mutter sagt, und er geriet mit dem Wirt in Streit, einem Mann, dessen Mundwerk so schmutzig ist wie sein Küchenboden, wie meine Mutter sagt. Doryon, der Nekromant, hatte bei diesem Wortgefecht keine Chance, meint mein Vater jedenfalls, und so beschloß er, in der Schenke einen Spuk loszulassen. Er war betrunken, werter Herr, sturzbetrunken.
Er erhob sich also auf die Füße, machte ein paar Handbewegungen, sprach einige Sätze, worauf, wie mein Vater erzählt, die ganze Gesellschaft in der Schenke das Zittern bekam, denn er hatte einen monströsen Geist gerufen, der wetternd und zeternd in der Luft hing und sich im Kreis drehte. Daraufhin, so sagt mein Vater, griff sich der alte Nekromant ans Herz und fiel um wie ein gefällter Baum, wumm, steif wie ein getrockneter Fisch und genauso tot.
Doch der Spuk, den er rief, hörte nicht auf zu toben und zu stöhnen. Er verfinsterte sich und wurde immer trüber, bis er schließlich das Heulen begann und sich heulend seinen Weg aus der Schenke in die Straßen von Betand suchte, wo er seitdem Nacht für Nacht heult und heult.«
»Aber«, warf ich ein, »warum hat ein anderer Nekromant diese Erscheinung nicht wieder zur Ruhe geschickt? Was man rufen kann, kann auch wieder zurückgesendet werden. Das habe ich jedenfalls so gelernt.«
»Werter Herr, das dachten wir auch. Aber Doryon war sehr betrunken, und die Nekromanten, die danach kamen, meinten, er hätte nicht den Geist eines Verstorbenen aus der Vergangenheit erweckt, sondern den Geist eines noch Ungeborenen aus den Zeitläufen herausgerissen und zur Unzeit nach Betand gebracht. Keiner von ihnen wußte, wie man dieses Wesen wieder aus dem Dasein und in die Zukunft zurückschaffen kann.«
»Aha. Soso. Aber ich verstehe es trotzdem nicht ganz.« Noch immer war ich völlig entgeistert und verwirrt. »Was hat das Ganze damit zu tun, vergewaltigt zu werden, weil das Gesetz es so will?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf, wie um zu sagen, daß ich die ganze Angelegenheit nun doch endlich hätte kapiert haben müssen. »Wenn dies der Geist eines Ungeborenen ist, so ist es im Interesse der ganzen Stadt, daß dieses Wesen so rasch wie möglich geboren wird. Das heißt, jede Frau in Betand muß, wann immer es geht, in andere Umstände kommen.«
»Aber warum Vergewaltigung«, protestierte ich. »Weshalb?«
»In Betand wird jedes intime Zusammensein außer zwischen Verheirateten durch das Gesetz als Vergewaltigung bezeichnet. Heiraten kann man aber nicht einfach aus purem Gutdünken. Da gibt es viel zu bedenken, Besitz, Familie, Bündnisse. Manchmal dauert es Jahre, bis die Einzelheiten der Verträge, Niederlassungen, Vereinbarungen ausgearbeitet sind.«
»Sie erwarten also, daß
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