Das Wahre Spiel 02 - Der Nekromant
und sprach einen von ihnen an. »Wie lange gab es diesen Ort hier schon?«
Der Vogelmann ruckte mit dem Kopf, überlegte und sagte: »Ein paar tausend Jahre, soviel ich weiß.«
»Was war es? Es war ein Wandler, stimmt’s?«
»Man hat mir erzählt, sein Name sei Thandigar gewesen. Er war verrückt. Völlig verrückt.«
»Er war nicht verrückt.« Ich zwang sie, mir in die Augen zu sehen. »Er war tot.«
»Das kann nicht sein«, sagte Sambeline. »Wenn er tot gewesen wäre, hätte es Schloß Jammer nicht mehr gegeben …«
»Doch!« Ich hätte sie am liebsten allesamt verflucht. »Der Wandler war tot. Sein Geist ist bereits vor langer Zeit gestorben. Überreste des Körpers blieben erhalten, irgendein primitives reflektives Nervenzentrum, das die Dinge am Laufen hielt, die Feuer am Brennen, das Mauern ausbesserte und die Türen öffnete und schloß, das festhielt und haßte. Nur das blieb übrig …« Ich wartete, aber sie schwiegen. »Wie viele von euch hat es gefangen? Getötet?«
»Von uns nur ein paar«, erwiderte der Vogelmann zögernd.
»Aha. Ihr habt Euch also gegenseitig gewarnt. Und die anderen? Die sollten es selbst herausfinden, stimmt’s? Wie viele gingen hinein?«
»Tausende«, erwiderte Sambeline verstimmt.
»Und wie viele kamen wieder heraus?«
»Keiner«, sagte der Vogelmann.
»Falsch«, sagte ich. »Jetzt sind sie alle wieder herausgekommen. Alle. Und nun verlange ich eine Antwort, die ich mir redlich verdient habe. Wo ist das Denkmal von Thandbar?«
Sie schauten sich an, mit wandlerischen Blicken, Blicken, die sich von den Augen abwandten und sich über die Schultern auf weit entfernte Dinge richteten.
»Was ich mit Schloß Jammer gemacht habe, kann ich auch mit anderen Dingen hier tun«, drohte ich leise. »Gleichgültig, welche Gestalt ihr annehmt, ich finde euch schon …«
Es war Sambeline, die einlenkte. »Schlaizy Noithn selbst ist Thandbars Denkmal«, erwiderte sie. »Das Tal selbst.«
Beinahe mußte ich lachen. O Mavin, dachte ich. Mutter, bist du wirklich mit denen hier verwandt, dieser Ansammlung speichelleckender Nichtstuer? Und, falls es wirklich so ist, warum will ich dich dann überhaupt finden? Meine Augen blickten zu den Anhöhen. »Schau nicht darauf«, hatte sie gesagt. Na gut, wenn ich nicht auf Schlaizy Noithn schauen sollte, dann würde ich eben auf die Anhöhen blicken. Irgendwo dort hoch.
Ich sagte kein Wort mehr zu den Gestalten, die immer noch inmitten der Verwüstung standen. Ich wandte mich einfach ab und ging fort in Richtung der Anhöhen. Hinter mir hörte ich, wie sich ein kurzes Streitgespräch entspann. Als ich mich umdrehte, um auf den Weg zurückzublicken, war niemand mehr da. Das Tal lag vor mir, wie ich es zuerst gesehen hatte, grün, bewaldet, mit Girlanden aus Flüssen und mit Seen geschmückt. Am Rand des Tales nahe bei mir befand sich eine graue Narbe. »Werdet Gras und bedeckt sie«, flüsterte ich. »Um eure Schande zu verbergen.« In mir bewegte sich Didir heftig. »Schon gut«, sagte ich. Sollten sie doch eine Weile auf die narbige Erde blicken. Vielleicht fiel ihnen dann ein, was sie hätten tun sollen. Oder getan hätten, wäre ihnen eines der Wörter bekannt gewesen, die Windlow mir beigebracht hatte.
In diesem Augenblick hätte ich keine wurmstichige Frucht für alle Wandler von Schlaizy Noithn hergegeben.
6
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Mavins Sitz
Oben auf der Anhöhe führte ein Pfad rund um das Tal. Ich wandte mich nach Westen, weil das der Richtung entgegengesetzt lag, aus der ich nach Schlaizy Noithn gekommen war. Der Pfad führte mich höher und höher hinauf, bis ich zuletzt einen spitzen Gipfelvorsprung erreichte, der sich westwärts über das Land neigte. Dort lehnte ich mich gegen einen Baum. Mein Blick glitt von den eisbedeckten Bergen im Süden zu einem weit entfernt liegenden nebelverhangenen Gebiet im Norden, wo Dschungel und Sümpfe lagen. Ich lehnte – ohne viel zu überlegen – an einem Baum, bis eine Bewegung meine Aufmerksamkeit erregte. Oben auf dem Gipfel saß Mavin neben einem Feuer, über dem ein paar fette Vögel brieten. Das Wasser lief mir so im Mund zusammen, als ich daran dachte, wie sie wohl schmecken würden, daß ich kein Wort herausbrachte, als ich mich näherte.
Mavin schaute hoch und fuhr mich an: »Was hat dich aufgehalten? Ich dachte, du kämst viel früher.«
Das war zu viel. Ich spürte, wie heiße Wut in mir kochte und wie eine harte Windböe mein Rückgrat hochschoß. »Wie kannst du zulassen, daß es
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