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Das Wahre Spiel 03 - Das dreizehnte Talent

Das Wahre Spiel 03 - Das dreizehnte Talent

Titel: Das Wahre Spiel 03 - Das dreizehnte Talent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sheri S. Tepper
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wir alle gehört haben. Wir haben von Dingen gehört, die erweckt wurden, aber nicht mehr gebannt werden konnten. Wir haben von Dingen gehört, die sich gegen diejenigen wandten, die sie gerufen haben. Himaggery würde sagen, gebrauche deinen Verstand, und denke drüber nach, und ich könnte es nicht besser ausdrücken.«
    Wenn Chance so beleidigt reagierte wie eben, war es sinnlos, weiter in ihn zu dringen, und deshalb ritt ich beschämt weiter. Der Verstand sagte mir, daß alles, was erweckt wurde, von irgendwoher Kraft sammeln mußte. Der Verstand sagte mir das und ebenso die Erfahrung, denn als Dorn die Toten unter den Mauern von Bannerwell erweckte, hatte ich gespürt, wie die Kraft aus ihm – aus mir – herausgeflossen war. Wenn sie aber einmal erweckt waren, marschierten sie von allein weiter – wenigstens hatten die in Bannerwell es getan. Es war, als zöge man einen Karren den Berg hinauf und gäbe ihm dann oben einen kräftigen Stoß, damit er von allein wieder herunterrollte. Zumindest also unter bestimmten Bedingungen bewegten sich Dinge, die erweckt wurden, hinterher allein. Nun, der Verstand hatte mich hier jetzt nicht weitgebracht. Ich würde noch mehr darüber nachdenken müssen.
    In der Zwischenzeit waren wir so weit geritten, daß die Domäne des Phönix im Osten vor uns auftauchte. Es war Zeit zur Rast, für uns ebenso wie für die Tiere. Hier und dort erhoben sich in dem flachen Ackerland, das von Hunderten kleiner Kanäle durchzogen wurde, die alle zu der östlichen Gabelung des Flusses Reave hinunterflossen, kleine Hügel, alle mit Bäumen bestanden, Gehölze, die von den Bauern als Brennholzlieferanten übriggelassen worden waren. In einem dieser Wäldchen suchten wir für den Rest der Nacht Deckung, banden die Pferde an, damit sie nicht weglaufen und von der Straße her gesehen werden konnten. Ich legte mich voller Vorahnungen und mit einem unbehaglichen Gefühl schlafen. Die Götter des Spiels mögen wissen, was ich träumte, aber am nächsten Morgen hatte ich mich so in meine Decken verwickelt, daß Chance mir heraushelfen mußte. Und sie waren schweißdurchtränkt.
    Wir frühstückten über einem kleinen Feuer, das nicht rauchte und rasch verlöscht war, als die ersten Reisenden auf der Straße erschienen. Hinter Farnen versteckt, spähten wir hinunter, während ungefähr eine Stunde verging und das übliche Auf und Ab auf der Straße herrschte – Bauernkarren, eine Herde Wasserochsen, ein Mädchen, das drei Zeller, deren Euter schwer voll Milch schaukelten, an ihren Nasenringen führte. Dann folgten ein Schwarm Reisender aus dem Süden, die alle eilig und ohne einen Blick auf die Umgebung zu werfen, vorbeiritten, dann noch ein paar andere, und dann war eine Weile Ruhe, bevor eine Gruppe Reiter erschien, deren Blick starr nach vorn gerichtet war, als wollte er die Meilen bereits vorauseilen. Dann trat wieder eine Weile Ruhe ein, ehe zwei Männer vorbeipreschten, die hart auf ihre Pferde eindroschen. Und nach ihnen kamen die Knochen.
    Es war eine ganze Horde, Hunderte oder mehr, komplette Skelette, die so lose zusammenhingen, daß die Arme und Beine nahezu ein Eigenleben führten und rasselnd hinwegtanzten, nur um sich gleich darauf wieder mit dem Rest zu einem vollständigen Ganzen zu vereinen, die grinsenden Totenschädel hüpfend und auf den Enden der Wirbelsäule wippend, als säßen sie auf Sprungfedern. Hinter diesen klappernden Haufen ritt der Knochentänzer auf einem abgehalfterten schwarzen Pferd, und hinter ihm der Exorzist, der Zeitgreifer und das Medium – nein! Es war überhaupt kein Medium. Die Nacht zuvor hatte ich im Feuerschein nur den grauen Umhang gesehen, dessen Kapuze das Gesicht verborgen hatte. Im Tageslicht glitzerte der Umhang golden spinnwebartig bestickt, und die Kapuze war zurückgestreift und gab den Elsterhelm darunter frei. Ein Ranzelmann – mit den gleichen Talenten wie ein Zeitgreifer, der aber zusätzlich noch LESEN konnte. Ich schärfte meine Wandleraugen, um mehr erkennen zu können, fluchte dann, als ich mehr entdeckte als ich mir lieb war.
    »Karl Schweinsgesicht«, sagte ich. »Ein Ranzelmann!«
    »Nicht doch!« Chance fummelte mit dem Spähglas, bemüht, es zwischen die Farnblätter zu schieben, ohne uns durch das Rascheln zu verraten. »Wahrhaftig! Aber was stimmt mit ihm denn nicht? Das ist nicht der Karl, den du kennst!«
    Ich schaute noch einmal sorgfältiger hin. Es war Karl Schweinsgesicht, außer Frage, aber das Gesicht war … leer.

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