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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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identifizieren. An meinem Terminal arbeite ich über zwölf Leitungen gleichzeitig. Ich benutze zwei Tastaturen, jede mit einer Hand, dazu ein am Hals befestigtes Mikrofon, damit ich drei Abfragen gleichzeitig durchführen kann. Mein Körper ist größtenteils regungslos; um der Ermüdung vorzubeugen, sorge ich für den richtigen Blutfluss, regelmäßige An- und Entspannung der Muskeln und für den Abtransport der Milchsäure. Ich sauge die Daten in mich auf, spüre der Melodie in den Noten nach und suche nach dem Epizentrum eines Zitterns im Netz.
    Stunden vergehen. Wir beide durchkämmen viele Gigabytes Daten und umkreisen einander.
    Er hält sich in Philadelphia auf, und er erwartet mich.
    Ein schlammbespritztes Taxi bringt mich zu Reynolds’ Wohnung.
    Den Datenbanken und Vermittlungsstellen nach zu urteilen, bei denen Reynolds während der letzten Monate Suchanfragen gestellt hat, umfassen seine Forschungen biotechnisch veränderte Mikroorganismen für Giftmüllentsorgungsanlagen, den Trägheitseinschluss für eine praktische Nutzung der Kernfusion und die unterschwellige Verbreitung von Informationen in den unterschiedlichsten Gesellschaften. Er hat vor, die Welt zu retten, sie vor sich selbst zu schützen. Und dementsprechend hat er keine gute Meinung von mir.
    Ich habe nie Interesse an der Außenwelt gezeigt und keine Anstrengungen unternommen, um den normalen Menschen zu helfen. Keinem von uns wird es gelingen, den anderen zu bekehren. Für mich ist die Welt nur Mittel zum Zweck, während er nicht zulassen kann, dass jemand mit gesteigerter Intelligenz ausschließlich aus Eigeninteresse handelt. Die von mir angestrebte Verknüpfung von Geist und Computer wird gewaltige Auswirkungen haben, und die Reaktionen der Regierungen und der Bevölkerung werden seine Pläne stören. Da ich sprichwörtlich nicht Teil der Lösung bin, bin ich Teil des Problems.
    Würden wir unter unseresgleichen leben, würden Menschen grundlegend anders miteinander umgehen. Aber in der gegenwärtigen Gesellschaft ist jeder von uns unweigerlich ein Moloch, nach dessen Maßstab die Handlungen normaler Menschen bedeutungslos werden. Nicht einmal, wenn wir zwölftausend Meilen voneinander entfernt wären, könnten wir einander ignorieren. Es muss zu einer Entscheidung kommen.
    Beide haben wir auf etliche Spielrunden verzichtet. Wir hätten auf tausend verschiedene Arten versuchen können, einander zu töten – angefangen bei einem an Dimethylsulfoxid gekoppelten Nervengift auf der Türklinke bis hin zu einem gezielten Beschuss durch einen Militärsatelliten. Beide hätten wir vor dem Treffen die physische Welt und das Datanet nach jeder einzelnen der vielen Möglichkeiten durchkämmen und dem anderen bei seiner Suche eine Falle stellen können. Doch wir haben nichts dergleichen getan und es nicht für notwendig erachtet, diese Möglichkeiten auszuloten. Eine einfache Endlosrekursion der Vorhersagen und Gegenstrategien hat das alles überflüssig gemacht. Wichtig werden die Vorkehrungen sein, die wir nicht vorhersehen konnten.
    Das Taxi hält; ich zahle und gehe zum Hochhaus hinüber. Die elektrische Türverriegelung öffnet sich. Ich ziehe den Mantel aus und steige vier Stockwerke hinauf.
    Auch die Tür zu Reynolds’ Wohnung steht offen. Ich gehe durch den Gang ins Wohnzimmer, wo ich aus einem digitalen Synthesizer extrem beschleunigte, polyphone Klänge vernehme. Offenbar handelt es sich um ein Werk von Reynolds selbst. Die Töne sind so moduliert, dass ein normales Gehör sie nicht wahrnehmen kann, und selbst ich vermag keinerlei Muster in ihnen zu erkennen. Vielleicht handelt es sich um ein Experiment mit extremer musikalischer Verdichtung.
    Im Zimmer steht mit dem Rücken zu mir ein großer Schaukelstuhl. Reynolds ist nicht zu sehen und hat die Signale, die sein Körper aussendet, auf das Level der Bewusstlosigkeit heruntergefahren. Ich mache mich bemerkbar und stelle zugleich klar, dass ich seinen Namen kenne.
    
    Er nimmt es zur Kenntnis.
    Langsam dreht er sich auf dem Stuhl zu mir um. Er lächelt mich an und schaltet den Synthesizer neben sich ab. Genugtuung.
    Um uns zu verständigen, nutzen wir Bestandteile der Körpersprache normaler Menschen: eine stenografische Version der gesprochenen Sprache. Jeder Satz dauert nur eine Zehntelsekunde. Ich deute Bedauern an.
    Melancholische Zustimmung, dann eine Hypothese.